Sternchen sind mir am liebsten am Himmel Oder: Gibt es PimmelInnen mit Ohren?

Vor einiger Zeit habe ich im Fernsehen eine philosophische Sendung verfolgt. Gesprächspartner war ein Psychologenpaar. Ein Mann, eine Frau. Beide verwendeten konsequent eine gegenderte Sprache. Wenn sie beispielsweise von «Psychologen» sprachen, sagten sie «Psycholog-Innen». Das klingt in einem Gespräch nicht nur gekünstelt, sondern verwirrt auch. Der Sprecher ist gezwungen, sowas wie eine kleine Zäsur ins Wort einzubauen, während der Zuhörende sich jedes Mal fragt, wer denn jetzt genau gemeint ist. Die Psychologen als Gesamtheit oder nur der weibliche Teil davon? Oder vielleicht auch die vom dritten Geschlecht? Und weshalb spricht der Herr von sich als Psycholog-In? Und das Resultat dieser Fragen, die sich mir andauernd stellten: Die philosophischen Aussagen, die die beiden machten, gingen völlig an mir vorbei, dermassen irritierte mich diese Gendersprache. 

Noch ein Beispiel: Ich hatte eine Diplomarbeit einer Lehrerin zu korrigieren. Im Text kamen ständig «Lehrerinnen und Lehrer» vor und als Abwechslung «Lehrkräfte» und «Lehrpersonen». Schon ab Seite drei der Arbeit hätte ich nicht übel Lust gehabt, den Lehrkräften von der PH, die solche Texte in Auftrag geben, einmal die Ohren langzuziehen. Sollten nicht gerade sie fähig sein, sprachlichen Sinn von Unsinn zu unterscheiden. Noch viel schlimmer aber finde ich, dass in Diplomarbeiten eine solche Sprachregelung völlig undemokratisch angeordnet wird, ganz egal, was der Studierende davon hält. 

Ihr seht schon und die Aufmerksamen unter euch, werden es schon längst in meinen Texten gesehen haben, von Binnen-I, Sternchen, Ersatzbegriffen und was dergleichen noch mehr in  gegenderten (allein schon das ein Unwort) Texten herumgeistert, halte ich gar nichts. Mein Trost ist immerhin dies: Sie sind nichts als eine Mode und werden verschwinden, wie sie gekommen sind. Sprache operiert mit Vereinfachung. Was nicht benötigt wird und keinen Sinn macht, wird weggeschliffen, weggelassen. Aus rein praktischen Gründen. 

Ich liebe unsere Sprache. Ich beschäftige mich damit, sie ist mein Werkzeug, ich sehe zu, wie sie sich verändert, wie neue Begriffe hinzukommen, alte verschwinden. Sprache betrachte ich als ein organisches Gewebe. Gendern kommt für mich einem Krebsgeschwür gleich. Aber ich schätze natürlich, wenn Menschen sich Gedanken um Gleichstellung und Gerechtigkeit machen. Ob der Sprachansatz etwas dazu beitragen kann, bezweifle ich sehr. Aber die Diskussion sollte offen bleiben. Und respektvoll.

Nun ist mir ein kleines Büchlein in die Hände gekommen, das sich mit dem Thema auseinandersetzt und mir in vielem aus dem Herzen spricht: Gendern wird nichts ändern von Alexander Glück. Glück vereint darin fünfzig „wertschätzende“ Argumente gegen die gewaltsame Deformierung unsere Sprache. Ich habe in dem Buch einige meiner Gedankengänge zum Thema wiedergefunden, aber auch zusätzliches gelernt. Wusstet ihr, dass es in England eine feministische Bewegung gibt, die weibliche Formen konsequent durch männliche ersetzt, also actress durch actor. Mit der Begründung, dass Gendern sexistisch sei? 

Alexander Glück fächert seine 50 Gründe gegen das Gendern nach Themen auf: Sprachliche Gründe ebenso wie funktionale und politische, Gerechtigkeits- sowie gesellschaftliche Gründe. Manchmal hätte ich mir dennoch eine weiblichere Sicht auf die Dinge gewünscht. Zum Beispiel hier:

Gendersprache wird selektiv angewendet, sie ist auch deshalb ungerecht: Wörter wie «Mörder», «Einbrecher», «Terroristen» usw. werden kaum gegendert. (Ist das so?) Stattdessen werden rechte Demonstranten, obwohl zahlreich weiblich, als «Pimmel mit Ohren» maskulinisiert. (Ich finde «Pimmel mit Ohren» wunderbar bildhaft und witzig, würde aber doch vorsichtig mit dem Ausdruck sein. Es wäre klüger, die rechte Bewegung ernst zu nehmen, denn vor allem haben diese Pimmel und -innen sehr, sehr laute Stimmen. Aber danke, Herr Glück, für dieses köstliche Beispiel.)

Was ich mir noch gewünscht hätte in diesem Büchlein: eine besser lesbare Schrift. Argumente werden nicht eindrücklicher, wenn man sie in fetter Plakatschrift aus Papier bringt. 

Dieses Büchlein enthält auch einen Aufruf, sich den wirklichen Problemen zuzuwenden. Hier wäre einzuwenden, dass genau dies sich nicht ohne Gleichstellung und Gerechtigkeit bewerkstelligen lässt. Wo der Autor aber Recht hat: Mit kleinlichen Grabenkämpfen kommen wir keinen Schritt vorwärts.

Autor: Alexander Glück

Titel: Gendern wird nichts ändern

Verlag:  Der Apfel e. U., Wien, 2023

ISBN 978-3-85450-144-2, Euro 17.95

Kurz zusammengefasst: Der Autor hat 50 Gründe gegen das Gendern in der deutschen Sprache aufgelistet. Mitunter witzig.

Für wen: Wer bis jetzt sich aus dem Bauch heraus geweigert hat Binnen-I, Sternchen etc. einzusetzen, hat jetzt auch 50 gute Argumente dafür. 

Dichtes Gewebe aus Gewalt, Schuld und Schweigen

Die Fabres, eine angesehene, traditionsbewusste normannische Familie, die in Paris lebt, haben ein Problem:

 «Sie sahen sich mit einem jungen Mann konfrontiert, der unbedingt aufsteigen wollte, und mit einer Frau, die unbedingt lieben wollte – eine Allianz, gegen die man nur schwer ankam.»

Der junge Mann hiess David Wagner, die junge Frau Clémentine Fabre. Das Problem der Fabres führt zu Verrat. Und zu einem generationenübergreifenden Schweigen innerhalb der Familie.

Es waren die späten Dreissigerjahre. Die Deutschen würden Frankreich überrollen und David, eben jener aufstiegswillige Sohn polnischer Juden, würde deportiert werden. Er hatte es gewagt, die Frau seines Schwagers Marcel zu begehren. Wäre er bei seinen Plänen rund um Clémentine geblieben, vielleicht hätte sein Leben und das der Fabres eine andere Wendung genommen.

Jahrzehnte später besucht Nathan Fabre, Grosskind Marcel Fabres, das Konzentrationslager Buchenwald, den Ort und die Quelle des Bösen, wie er es empfindet. Hier entdeckt er das Foto eines Internierten. Der Mann auf dem Foto gleicht auffallend seinem Vater. Nathan stellt Nachforschungen an und stellt fest: Der Mann auf dem Bild war David Wagner und sein richtiger Grossvater.

Endlich weiss Nathan Fabre, woher die Gewalt kommt, die in ihm steckt und ihn ab und an überfällt. All die unterdrückten Schuldgefühle, Vorwürfe, das Anderssein und Gefühle des Nicht-Verstehens suchen sich einen Ausweg.

Fabrice Humberts Roman führt von Frankreich aus nach Deutschland, das heutige ebenso wie dasjenige des Dritten Reichs. Die Fäden der Geschichte bilden ein immer dichteres Gewebe. Nathan trifft auf Sophie, eine junge Deutsche, die ihn einerseits anzieht, anderseits ist sie familiär vorbelastet, was das Thema Buchenwald und SS angeht. Wo Nathans Grossvater einer der Internierten und Getöteten war, so zählt die Familie Sophies zu den Tätern. Und wo Nathan die Geschichte seines Grossvaters aufarbeiten will, findet Sophie das Thema abgearbeitet. 

Opfer, Täter – immer wieder stellt sich die Frage, wer in dieser Geschichte welchen Anteil Schuld auf sich geladen hat. Und wo oder wann man das Geschehene überwinden kann. 

Fabrice ist ein kluger, nachdenklicher, akribisch arbeitender Autor, der es weder sich noch seinen Lesern einfach macht. Gleich zu Beginn stellt er sich die Frage, ob er als Nachkomme der dritten Generation, also kein direkt Betroffener, überhaupt legitimiert sei, das Thema aufzugreifen. Die Antwort liegt in diesem Buch vor und kann nach der Lektüre nur mit Ja beantwortet werden. Fabrice bringt Geschichte, Autobiographisches und Philosophisches in Bezug zueinander. Sehr intensiv wirkt dabei auch, dass er Nathan als Ich-Erzähler funktioniert, was eine fast unheimliche Wahrhaftigkeit schafft. 

Titel: Der Ursprung der Gewalt, Roman, 365 Seiten, gebunden

Autor: Fabrice Humbert, aus dem Französischen von Claudia Marquardt

Verlag:  Elster&Salis, 2022

ISBN 978-3-906903-18-7, SFr. 32.00 / 24.– € 

Kurz zusammengefasst: Inwieweit hat das Verschweigen unliebsamer Familiengeschichten Nachwirkungen auf die nachfolgenden Generationen? Sind wir nicht alles «Direktbetroffene», wenn es um Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht? Fabrice Humberts kluger, in sachlichem Ton verfasste Roman Der Ursprung der Gewaltgeht eingehend und eindrücklich der Frage nach. 

Für wen: Alle, die eine seltsame Wut in sich spüren, sie aber nicht einordnen können

Negieren bis zum Explodieren

Anhand eines tatsächlich geschehenen grauenhaften Mordes, fragt sich der Autor Nicola Lagioia, inwieweit der Ort, an dem wir wohnen die menschlichen Handlungen beeinflusst. 

Die Tötung eines jungen Römers wurde an einem Märzmorgen des Jahres 2016 entdeckt. Lagioia beschreibt die Stadt als Moloch, in der das Chaos omnipräsent ist und in der sich jeder irgendwie durchwurstelt. Der Schwierigkeiten sind viele: ein politisches Wirrwarr, das eher Probleme schafft, als sie zu lösen versucht; eine nicht funktionierende Müllabfuhr samt Rattenplage biblischen Ausmasses; Verkehrschaos; Drogen; Korruption; Kriminalität. Und zwischen all dem der Mythos von der ewigen Stadt mit ihren baulichen und geschichtlichen Besonderheiten, derentwillen die Touristen anreisen.

Die Stadt der Lebenden ist kein Buch, das man vor dem Schlafengehen lesen sollte. Die Geschichte handelt vom unbegreifbar Dunklen und Bösen, zu dem wir Menschen fähig sind. Nicola Lagioia hat sich jahrelang und, wie er schreibt, obsessiv mit dem Mord an Luca Varani, einem dreiundzwanzigjährigen Jungen aus einem Römer Randbezirk, beschäftigt. Lucas Mörder waren Manuel Foffo und Marco Prato, beide etwas älter als Luca, beide aus guter Familie. Luca kam in der Wohnung von Manuel Foffo zu Tode, nachdem die beiden Täter ihn stundenlang gequält hatten. Einen Grund für ihr Handeln, sofern es denn für Mord eine Rechtfertigung gibt, hatten sie keinen. Dem Ermittlungsteam bot sich ein Bild des Grauens. Die Tat bot den Römern monatelang Stoff für Entsetzen, Berichterstattungen, Mutmassungen, Geschwätz, Schuldzuweisungen.

Nicola Lagioia hat sich zu Beginn als Journalist mit dem Fall beschäftigt. Das Buch liest sich als eine Art Feature oder Reportage. Für den Autor dürfte es eine Art Punkt hinter eine Geschichte sein, die ihn persönlich sehr betroffen gemacht hat und ihm lange Zeit keine Ruhe liess. Am Ende sind die aufgeworfenen Fragen nicht beantwortbar, auch wenn Lagioia sie von allen möglichen Seiten her und intelligent beleuchtet.

Der Autor hat Gutachten gelesen, Beteiligte befragt, Familienmitglieder, Beamte, Freunde usw. Er hat das Umfeld der drei jungen Männer durchleuchtet und versucht zu verstehen. Er schreibt, dass diese Geschichte nur in Rom passieren konnte. Ich wage ihm zu widersprechen. Die menschliche Natur weist Abgründe auf, die sich überall auftun können. Unnötig, einzelne Gräuel aufzuzählen, die ganz offensichtlich nur in völliger Abwesenheit von Mitmenschlichkeit und Verstand geschehen sind. Doch es braucht gewisse Voraussetzungen, damit sich das Böse manifestieren kann. Im Falle Luca Varani waren es zwei junge Männer, die mit ihrem Leben nicht zu Rande kamen, Drogen, eine aufgestaute Wut und vielleicht auch eine Stadt, in der das Explodieren ebenso zum Alltag gehört wie das Negieren. Eines der intensivsten Bücher, die mir dieses Jahr begegnet sind.

Titel: Die Stadt der Lebenden, 512 Seiten

Autor/Autorin: Nicola Lagioia, aus dem Italienischen von Verena von Kaltbach

Verlag:  btb, 2023

ISBN 978-3-442-75960-6, SFr. 34.90/ 26.50 € 

Kurz zusammengefasst: Rom, eine Stadt am ständigen Rande des Zusammenbruchs an einem ganz gewöhnlichen Märzmorgen. Doch ein junger Mann liegt grausam ermordet in einer Wohnung. Nichts hat zuvor auf die Tat hingewiesen und auch im Nachhinein bleibt sie unerklärlich. Eine wahre Horror-Geschichte, ein eindringlicher Versuch, abseits von Sensationsgeilheit Antworten zu finden. Definitiv nichts für unter den Christbaum!

Für wen: Jene, die es noch nicht aufgegeben haben, die menschlichen Abgründe verstehen zu wollen, welche sich hinter ganz normalen Gesichtern auftun

Auf möglichst bunte Tage im Jahr 2024 (mit Wettbewerb)

Was, ihr kennt die orte-Agenda noch nicht?

Dann wird es aber höchste Zeit, euch mal eine zu bestellen.

Die orte-Agenda 2024 liegt auf meinem Schreibtisch, wiederum gefüllt mit 356 Tagen, die ihr im kommenden Jahr hoffentlich weitgehend nach eurem Gusto gestalten dürft. Zu diesen noch unbeschriebenen Tagen liefern wir – wir: das sind Susanne Mathies und ich – euch wie immer Gedichte, Bilder, Gedanken usw., alles halt, was uns die vielen fleissigen Autoren und Fotografen dankenswerterweise jedes Jahr zur Verfügung stellen, um eine möglichst abwechslungsreiche Agenda zusammenzustellen.

Beispiel gefällig?

Am 17.Juli 2024 findet sich folgendes wunderbare, humorvolle und dennoch nachdenkliche Gedicht von Brigitte Fuchs:

Geöffnetes Tor

Die alte Freitreppe hochsteigen zu den

Feigenbäumen bei der Burghalde mit den

bauchigen Früchten reift auch der

Leichtsinn wer weiss vielleicht sind das

unsere besten Jahre noch beherrschen wir

den Dreivierteltakt kennen die Plätze der

Gaukler alle paar Wochen zeigt sich uns

der Mond von seiner zärtlichen Seite

Die orte-Agenda ist mit keiner anderen zu vergleichen. Schon das 2024-er Titelbild von Katja Nideröst macht Lust, in der Agenda zu schmökern: Ein gelber Käfer auf dem Weg durch einen Farbkasten. Auch er macht sich die Tage bunt.

Zu bestellen ist die Agenda entweder direkt beim Verlag http://www.orteverlag.ch oder in jeder anständigen Buchhandlung. Ich würde selbstverständlich auch liefern, falls das gewünscht wird. Kostenpunkt pro Agenda 18 Franken.

Wettbewerb

Wettbewerb: Eine Agenda 2024 verlose ich unter allen, die diesen Beitrag kommentieren sowie unter den Frischlingen (Neuabonnenten) auf diesem Blog.

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Kauen am Seil zwischen den Zähnen

Frei von Lea Ypi: Wieder einmal ein Buch, das ich von ganzem Herzen empfehlen kann. 

Nein, ein Roman ist es nicht, auch wenn es sich fast wie einer liest, so spannend und erstaunlich, so fremd und aus einer ungewohnten Optik. Zumal für eine Westeuropäerin wie mich, die von Albanien bis zum heutigen Tag an ein Land gedacht hat, das Jahrzehnte bis zum Tod von Enver Hoxhas vollkommen abgeschottet war und seit dem Fall des eisernen Vorhangs vor sich hindümpelt. Albaner, das waren Menschen, die aus ihrem Land abgehauen waren. Manchen galt Albaner als Schimpfwort. Ja, und dann ist da noch dieser Doppeladler (Flagge Albaniens), der gelegentlich in Fussballspielen auftaucht und für Ärger sorgt. Da war aber auch die Familie, Flüchtlinge, die, nachdem sie viele Jahre mit uns im Dorf gelebt hatte, eines Tages abgeschoben wurde. Wir waren – unsere Kinder gingen mit deren Buben zu Schule – ebenso entsetzt wie machtlos. Wir wussten: In Albanien erwartete sie das wirtschaftliche Nichts. Aber sonst!?

Schande über mich … wobei zu meiner Verteidigung zu sagen wäre, dass in den 90ern der Balkan mit all seinen Ethnien und ihren Ansprüchen, den Bombardierungen und Gräueln sehr viel Aufmerksamkeit beanspruchte. Da kann so ein kleines Land wie Albanien schon mal aus dem Fokus geraten.

Nun, welch ein Glück, dass mich Lea Ypis Buch erreicht hat und mich staunen lässt, was mir so alles entgangen ist. Doch nicht nur das. Es geht nicht nur um die Geschichte eines Landes, Erinnerungen an den Zusammenbruch eines Systems und das nachfolgende Vakuum, sondern vielmehr um die Menschen: ihre Widerstandskraft, ihr Verhältnis zum den politischen Gegebenheiten und zur inneren und äusseren Freiheit. Ein überaus kluges Buch, das noch lange zu denken gibt. Hier ein Auszug:

Dass die Partei sich auf diese Weise auflösen und vervielfältigen, dass sie als die Krankheit und das Heilmittel zugleich gelten konnte, als die Wurzel alles Bösen und die Quelle aller Hoffnung, verlieh ihr etwas Mythisches, das noch Jahr später als der Grund unseres Unglücks angesehen wurde, als ein dunkler Schatten, der Freiheit wie Tyrannei aussehen liess und Notwendigkeit als Ereignis einer Wahl. Sich von ihrer allgegenwärtigen Präsenz zu befreien, fühlte sich an, wie auf einem Seil herumzukauen, das man gerade zwischen seinen Zähnen entdeckt hat. 

Lea Ypis Buch ist ein Buch der Erinnerungen an die 90er und zur Frage, was denn eigentlich Freiheit ist: Sie erinnert sich an die Tage, als erste Proteste in Tirana gegen das Regime von Hoxha und die Partei laut wurden. An die sprachlichen innerfamiliären Regelungen, wenn es um Menschen ging, die wegen ihrer «Biographie» im Gefängnis sassen. An die systematische Gehirnwäsche, der die Kinder ausgesetzt waren und die Ausweichmanöver der Familie, wenn die Begeisterung der kleinen Lea für Sozialismus, Stalin und Konsorten allzu nervig war oder komische oder gar gefährliche Züge annahm. Besonders intensiv und eindringlich fand ich die Tagebucheinträge der 18jährigen Lea aus dem Jahr 1997, als Albanien im Bürgerkrieg stand und viele Menschen ihre Ersparnisse an Pyramidenfirmen verloren hatten. Es gäbe noch vieles aus diesem Buch herauszupicken: Ich empfehle, es selber zu lesen, und vielleicht noch einmal zu lesen, und noch einmal. Es gibt einiges daraus zu lernen, auch weshalb wir so glauben und denken wie wir glauben und denken.

Autorin: Lea Ypi

Titel: Lea Ypi, Frei, Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Suhrkamp Verlag, 2022, gebunden, 333 Seiten

ISBN 978-3-518-303-47, 28 Euro/42.90 Franken

Kurz zusammengefasst: 90er-Jahre in Albanien. Lea – bis anhin gefüttert mit sozialistischen Slogans und geprägt von einer kindlichen Liebe für Enver Hoxha – erlebt den Zusammenbruch des rigiden sozialistischen Regimes und wächst hinein in eine wirre Zeit, geprägt von wirtschaftlichem Notstand, kriminellen Machenschaften, Hoffnungen, schwierigen Reformen, Bürgerkrieg, Fluchtgeschichten. Über allem die Frage: Wie lebt, interpretiert und erlebt der Mensch Freiheit.

Für wen: Ausnahmslos alle.