Jedem seinen Speck in roter Sauce

«Der grosse Sprung nach vorn»: Was sich in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts Mao und seine Führungsriege so schön als wirtschaftliche Vorwärtsbewegung Chinas ausgemalt hatten, entpuppte sich als Fiasko, das in einer grossen Hungersnot gipfelte. 

Wei Zhang bearbeitet in ihrem Roman «Satellit über Tiananmen» das Thema des «grossen Sprungs» aus Sicht der kleinen Leute: der Stahlarbeiter, der Hausfrauen, der Landbevölkerung. 

Der Roman ist in einem Neubauquartier rund um ein grosses Stahlwerk angesiedelt. Grossmutter Guo freut sich, dass sie zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter hierherziehen kann. Sie wird sogleich zur Parteisekretärin ernannt, eine wahre Berufung für die energische Frau, die sogleich bereit ist, dem «grossen Sprung» auf die Sprünge zu helfen. Zuerst verdonnert sie die Quartierbewohner dazu, eine Strasse zu bauen. Doch damit sind noch keine Preise zu gewinnen und «kein Satellit wird über Tiananmen steigen»: Also entschliessen sich die Frauen der Siedlung, ihre im Stahlwerk arbeitenden Männer darin zu unterstützen Stahl herzustellen. Sie sind damit nicht alleine: Im ganzen Land schiessen Schmelzöfen aus dem Boden. Ganze Berghänge werden abgeholzt, um diese zu füttern. Wo kein Eisenerz vorhanden ist, werden einfach Pfannen, Nägel und Matratzenfedern in die Öfen geworfen. Kein Opfer ist zu gering, die vorgegebenen Ziele der Parteiführung zu erreichen. 

(Hier ein kurzer geschichtlicher Überblick, also keineswegs vollständig und alle Probleme umfassend: Grosse Teile der Landbevölkerung waren plötzlich in die Industrialisierung des Landes eingebunden und konnten sich nicht mehr der Produktion von Lebensmitteln widmen. Ausserdem war der in den kleinen Schmelzöfen von den Kommunen hergestellte Stahl oft von minderer Qualität; die Bauwerke, die schnell hochgezogen wurden, waren gleichfalls oft schlecht ausgeführt. Die Ziele der landwirtschaftlichen Massnahmen zur Ertragssteigerung konnten nicht annähernd erreicht werden,  was schliesslich zu einer grausamen Hungernot führte.)

Wei Zhang zeichnet ein liebevolles, wenn auch zeitweise humorvoll-groteskes Bild einer Leidensgemeinschaft, die bereit ist, mit Glauben und viel Einsatz für ein versprochenes Ideal zu kämpfen. Nur manchmal kommen Zweifel auf: Dann, wenn der Schmelzofen schon wieder ein menschliches Opfer fordert. Oder wenn die redenschwingenden Herren gar nicht mehr aufhören wollen, Reden zu schwingen. Oder wenn bei einer Fahrt ins ländliche Heimatdorf sichtbar wird, was der «grosse Sprung» an Schäden in der Landschaft hinterlässt. Oder wenn bekannt wird, dass in den Gemeinschaftskantinen plötzlich kein Speck an roter Sauce mehr zu holen ist. Dann kommt plötzlich die Frage auf, ob das mit den elefantengrossen Schweinen, die in China gezüchtet wurden, eventuell eine Mär sei. 

Wei Zhang beschreibt Menschen, die Gemeinschaftssinn gross schreiben, doch sollte der eigene Bauch dabei auch zu seinem Recht kommen. Kurz: man laviert sich durch; manchmal ist man hart wie Stahl und dann wieder weich wie Seidentofu; man schweigt, wo man schweigen muss; und man versucht mit allen Tricks ein Stück vom Glück abzubekommen. Unterdessen sieht man Menschen, selbst ganze Dörfer verschwinden und weiss: die neue kommunistische Gesellschaft erfordert Opfer. Und bis das Paradies kommt, sind alle gerade soweit unglücklich, dass es noch auszuhalten ist.

Ein Buch über Opferbereitschaft für ein Ideal, auch über Verführbarkeit und darüber, dass am Ende die kleinen Leute die Konsequenzen tragen, wenn die Führungsebene versagt. Kein Roman, welcher sich direkt auf die Probleme des heutigen China bezieht, es sei denn: siehe oben (man laviert sich durch und sieht zu, dass man etwas von der Speckseite für sich beiseiteschafft. Man glaubt «denen da oben», weil man etwas glauben will. Und bis alles besser wird, ist man gerade soweit unglücklich, dass es noch auszuhalten ist.)

Autorin: Wei Zhang

Titel: Satellit über Tiananmen, Roman

Verlag: Elster und Salis, 2022, gebunden, 379 Seiten

ISBN 978-3-03930-026-6, 24.­– Euro/32.­– Franken

Kurz zusammengefasst: Ende der 50Jahre in China. Der Geruch von Schweinespeck in roter Sauce zieht durch die Strassen, die Verheissungen einer neuen Gesellschaft hängen in der Luft. In Grossmutter Guos «Harmoniedorf», einem Quartier im Umfeld einer grossen Stahlfabrik, wird eifrig und voller Naivität «am grossen Sprung nach vorn» gearbeitet. Doch irgendwie will nichts klappen.

Für wen: Es kann keinem schaden, sich mit China und seinen Traumata auseinanderzusetzen.

Vom kleinen Glück und vom grossen Scheitern

Lukas Hartmann stellt in seinem Roman «Ins Unbekannte» zwei Menschen gegenüber, die nichts verbindet, ausser die Zeit, in der sie lebten, und ein unzähmbarer Hang zur Leidenschaft. 

Zum Inhalt: Das 19. Jahrhundert ist am Ausklingen, das 20igste steht mit all seinen noch unbekannten Turbulenzen vor der Tür und ruft danach, gestaltet zu werden. Fritz Platten, ein Ostschweizer, ist hellauf begeistert von sozialistischen und kommunistischen Bestrebungen. Platten verschlägt es erst in die Schweizer Politik und schliesslich samt Familie nach Russland. Insbesondere Lenin hat es ihm angetan; ihm hilft er zur Rückkehr nach Russland; er rettet ihm sogar einmal das Leben. 

Genau in die Gegenrichtung reist Sabina Spielrein. Sie wird als noch sehr junge Frau im Burghölzli von Carl Gustav Jung wegen ihrer sognannten Hysterie behandelt und landet prompt in einer leidenschaftlichen und problematischen Beziehung mit Jung. Nach ihrer Heilung studiert sie Medizin und wird anerkannte Psychoanalytikerin. Später kehrt sie nach Rostow zurück. Ihr Mann ist ebenfalls Arzt. Die Psychoanalyse wird in der Sowjetrepublik aber zur unsowjetischen Sache erklärt, Spielrein darf immerhin als Ärztin praktizieren. 

Sowohl Spielrein als auch Platten ­– deren Lebenswege sich wohl höchstens «auf Luftlinie» kreuzten, auch wenn Lukas Hartmann so etwas wie eine flüchtige Begegnung in den Roman hineindichtet – ist ein hartes Ende beschieden. Spielrein wird als Jüdin während der deutschen Besatzung Rostows im 2. Weltkrieg im Verlauf von «Säuberungen» getötet; Platten wird wie viele andere in Sibirien inhaftiert, zu harter Fron gezwungen, und ­– all seiner Träume und Hoffnungen beraubt ­– gleichfalls erschossen. 

Die Jahrzehnte rund um die Jahrhundertwende haben mich schon oft beschäftigt. Ich bringe einfach alles was damals an Nationalismus, an Befreiungsideen, an Utopien, Machtverschiebungen, Kriegstreibereien, Krisen, Nach-mir-die-Sintflut-Festivitäten, Drogenkonsum, Aufbrechen von Konventionen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, technischen Errungenschaften, mitsamt starkem Einfluss auf Kunst und Literatur nicht zusammen (und wenn ich die Stichworte jetzt so lese, kommt mir auch der naheliegende Gedanke, es gelte derzeit genauso viel Wirrnis wie dannzumal.) 

Kurz: Es fällt mir schwer, mir ein Leben zu jener Zeit vorzustellen, weder in der Bourgoisie, zu der Spielrein zu zählen ist, noch in der Arbeiterklasse eines Fritz Platten. Und nun pickt Lukas Hartmann diese zwei gegensätzlichen Menschen aus jener Zeit aus der Masse heraus, hantiert mit Fakten, Ideen und Phantasie, setzt sich in die Köpfe der beiden und versucht genau das: eine wirre Welt und ihre Menschen zu erfassen, Zeitsplitter zusammenzufügen, die kaum zusammenzufügen sind. Auch im Vergleich der beiden Lebenswege bleibt am Ende nur das Fazit: Was für eine verrückte Zeit! Was für Herausforderungen! Was für ein Wille, das Leben selbst und frei zu gestalten! Und welche Möglichkeiten, in die Irre zu laufen!

Wunderbar gewählt, der Titel des Buches, vereint er doch sämtliche Aspekte, die im Buch vorkommen: Das Neue, das Fremde, das Ungewisse, das Geheimnisvolle.

Autor: Lukas Hartmann

Titel: Ins Unbekannte, Die Geschichte von Sabina und Fritz, Roman,

Verlag Diogenes, 2022, gebunden, 282 Seiten

ISBN 978-3-257-07205-1, 25.­– Euro/32.­– Franken

Kurz zusammengefasst: Sabina Spielrein kommt als 19jährige aus Rostow in die Schweiz, um sich im Burghölzli bei Carl Gustav Jung wegen ihrer «Hysterie» behandeln zu lassen. Nach erfolgreicher Behandlung studiert sie Medizin in der Schweiz und beschäftigt sich intensiv mit Psychoanalyse. Der Ostschweizer Fritz Platten war einer der Anführer des Landesstreiks von 1918. Er lässt sich von Lenins Ideen von der Umgestaltung der Gesellschaft begeistern und emigriert mitsamt seiner Familie nach Russland. Zwei Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten, verknüpft einzig durch die Zeit (Sabina Spielrein wurde 1885 geboren, Fritz Platten 1883), ihre Irrungen und Wirrungen. Beiden war ein gewaltsames Ende beschieden.

Für wen: Jene, für die Geschichte nicht das Grosse Ganze, sondern das Glück und Scheitern des Einzelnen bedeutet.

Se non è vero, è ben trovato

Es gibt sie also noch: Bücher, die einem so richtig mit sich nehmen, so dass man seine Augen gar nicht mehr von den Seiten losreissen möchte. Der Roman Sein Sohn von Charles Lewinsky hatte auf mich jedenfalls diese Wirkung: eine Geschichte voller spannender, witziger, intelligenter Figuren; eine Handlung, basierend auf wenigen geschichtlich verbürgten Tatsachen, ausgeschmückt so bunt und abwechslungsreich, dass es eine wahre Freude ist, eine Fabulierkunst, auf die man neidisch werden könnte, und dazu jede Menge Lebensgefühl des 19. Jahrhunderts. Romantische Schäferszenen oder Szenen hinter Biedermeier-Vorhängen sind nicht zu erwarten. Dafür eignet sich weder Lewinskys nüchterner Ton, noch würden die Figuren und die Szenerien, in denen sie sich bewegen, dazu passen. Man sollte wohl eher in Richtung Realismus denken – und das nicht zu knapp.

Worum geht es?

Über seine Herkunft weiss der elternlose Louis Chabos, grob. 1794, nichts. Im Waisenhaus, in welchem er aufwächst, ist er einer der Schwächsten. Sein französischer Name ist auch nicht gerade hilfreich. Seine unkomfortable Lage ändert sich etwas, als er mit zwölf «kein Kind mehr» ist und von einem Marchese als Diener ausgebildet wird. Denn hier lernt er, wie man sich in einer grausamen Welt behauptet. Louis Lehrzeit nimmt ein abruptes Ende, er stromert durch die Gegend, kommt ins Gefängnis, weil er einen Apfel gestohlen hat und zieht schliesslich mit Napoleons Armee gegen Russland. Den Feldzug überlebt er wundersamerweise, allerdings mit einer halben Hand weniger. Louis macht sich nun auf die Suche nach seinen Eltern und kommt so nach Reichenau und in die Bündner Herrschaft. Seine Mutter findet er in einer Einrichtung für Geisteskranke. Der einzige Mensch, der ihm jetzt noch sagen könnte, wer sein Vater ist, schweigt. Nach Jahren hat Louis einen Platz in Zizers gefunden, er hat eine Familie, ein gutes Auskommen. Doch die Suche nach seinem Vater lässt ihm keine Ruhe. In den Schriften seines Gönners findet er die Antwort, die er sucht: Sein Vater ist der König der Franzosen, Louis-Phillippe. Louis macht sich umgehend auf den Weg nach Paris. 

Louis, die Hauptfigur, bewegt sich als Habenichts unter den einfacheren Menschen. Sie wissen: Das Leben und die Mitmenschen sind ungnädig. Fast jeder hat damit zu tun, sich über Wasser zu halten. Die Lebensweisheiten sind dementsprechend, es ist wenig Platz für Mitgefühl. So sagt beispielsweise der Sergent, bei dem Louis seine Armeeausbildung erhält:

«Beim Zirkus geht man über das hohe Seil und kommt auf der anderen Seite an. Oder man verliert das Gleichgewicht und ist tot. Entweder oder. Etwas Drittes gibt es nicht. Applaus oder Totenmesse. Der Zuschauern ist es egal. Sensation ist Sensation. Dafür sind sie gekommen. Auf dem Schlachtfeld bekommt ihr keinen Applaus. Da ist es besser, ihr sterbt hier vor Erschöpfung.»

Doch nicht nur vom Sergent lernt Louis, dass die Welt ein Zirkus ist. Sein erster Lehrmeister, der Marchese, hat ihm folgendes beigebracht:

«Wenn du einen König beeindrucken willst, verneig dich weniger tief als die anderen. Merk dir das. Von denen mit der Nase am Boden kennt er genug.»

Louis ist gelehrig. Die Merksätze seiner Lehrmeister bleiben ihm im Kopf. Doch keiner von ihnen hat ihm beigebracht, was man mit einer Leerstelle, hinterlassen von Eltern, die nichts von ihm wissen wollten und die ihn in einem Waisenhaus abgegeben haben, anfangen soll. Und so ist Louis getrieben von der Frage, was das wohl für Eltern sein müssen. Für die Antwort auf sein Suchen verlässt er sogar seinen sicheren Familienhafen in Zizers. Anstelle eines königlichen Vaters, der ihn mit offenen Armen empfängt, wartet in Paris weit Unangenehmeres auf den Suchenden. 

Autor: Charles Lewinsky

Titel: Sein Sohn, Roman

Verlag: Diogenes, 2022, gebunden, 368 Seiten

ISBN 978-3-257-07210-5, 25.­– Euro/28.20 Franken

Kurz zusammengefasst: Temporeich, farbenfroh, klug und mit beiden Füssen lebensnah im 19. Jahrhundert: Dieser Roman lässt kaum einen Wunsch offen. Das Waisenkind Louis kommt auf derabenteuerlichen Suche nach seinem royalen Vater über Mailand, Russland, die Schweiz bis nach Paris. Manche Figuren im Roman gab es tatsächlich, die Romanhandlung: Se non è vero, è ben trovato. 

Für wen: Wunderbare Unterhaltung mit Tiefgang, ist wüsste keinen, dem das nicht gefallen würde.

Mitmenschlichkeit ist nicht gratis zu haben

Der Roman Die Stimme von Jessica Durlacher stellt den Leser vor die Frage: Wie weit würde man selber gehen, jemandem in Not zu helfen? Brächten wir heute den Mut auf, uns gehen Naziterror aufzulehnen? Gegen fanatische Islamisten? Einen Verfolgten zu verstecken? Was getrauen wir uns zu sagen, zu tun gegen Demagogen, selbsternannte Propheten, Umweltzerstörer, Kriegstreiber, Politiker, die ohne zu zögern und für den eigenen Vorteil demokratische Prozesse aushebeln, ihr eigenes Volk beschiessen, mit Atomwaffen drohen? 

Es gäbe viele Fronten, an denen es sich zu engagieren lohnen würde. Aber nicht immer ist so ein Einsatz von Erfolg gekrönt. Davon können manche ein Liedchen singen, sie sich voller Tatendrang ­– und Illusionen – eines Flüchtlings annahmen. Mitmenschlichkeit ist offenbar nicht gratis zu haben. 

Die Story:

Die charismatische somalische Muslima Amal kommt als Haushalthilfe in die jüdische, niederländische Familie von Zelda und Bor. Zelda und Bor waren mit ihren Kindern beim Angriff auf die Twin Towers in New York hautnah mit dabei. Der Ereignis hat tiefe Wunden hinterlassen.

Dieses Setting bringt einiges an Spannung mit sich. Die Autorin Jessica Durlacher lässt Zelda erzählen. Am meisten beeindruckt hat mich die gnadenlose Offenheit, mit der sie die inneren Zustände Zeldas seziert: Da ist einerseits ihre Skepsis gegen Muslime, anderseits ihr innerer Kampf gegen die eigenen Vorurteile. Dazu kommt, dass Amal nicht nur eine Schönheit, sondern auch eine begnadete Sängerin ist. Zelda möchte ihr gerne zu Erfolg verhelfen. Allerdings muss sie sich die Frage stellen: Geht es ihr wirklich um Amal? Ist es nicht vielmehr so, dass sie sich deshalb in die Mission «Erfolg und Freiheit für Amal» stürzt, um sich als guter Mensch zu fühlen? Oder damit Amal ihr Haus verlässt?

Es ist nicht unbedingt so, dass einem Zelda beim Lesen sympathisch ist. Vielmehr wirkt sie verwöhnt, anspruchsvoll, egoistisch. Auch blind, wenn es um ihren ältesten Sohn geht, abwesend und kühl, wenn es um Bor geht. Dennoch geht man mit dieser Figur mit. Das liegt daran, dass sie sich ihrer Fehler bewusst ist, aber kaum weiss, wie sie dagegen ankämpfen kann. Oder Zweifeln, Neid und Ängsten ausgesetzt ist.  Oder an kulturelle Grenzen stösst.

Die Geschichte endet dramatisch, nachdem Amal in einer Fernsehsendung sich von ihrem Kopftuch befreit und damit ins Kreuzfeuer islamistischer Fanatiker gerät. Zeldas Familie zahlt einen hohen Preis für ihre Mitmenschlichkeit.

Autorin: Jessica Durlacher

Titel: Die Stimme, Roman, Aus dem Niederländischen von Annelie Bogener

Verlag:  Diogenes, 2022, gebunden, 495 Seiten

ISBN 978-3-257-07185-6, 25 Euro/28 Franken

Kurz zusammengefasst: Eine singende Muslima mit Kopftuch in einer modernen jüdischen Familie. Beide Seiten haben ihre Geschichte und sind von ihr geprägt. Ein Roman, der Mitmenschlichkeit, gegenseitiges Unverständnis, kulturelle Unterschiede, das Kämpfen gehen innere und äussere Dämonen schonungslos thematisiert.

Für wen: Jene, die sich schon mal gefragt haben, ob sie in einem Terrorsystem ihr Leben oder das ihrer Familie riskieren würden. 

Das Leben auf Hochglanz

Wer wie ich gerne koreanische Filme schaut, dem sind sie schon begegnet: diese makellos glatten Gesichter, diese Barbies, durchgestylt, massiert, in Form gebracht von den Haarspitzen bis zu den Zehennägeln, gekleidet in hautenge Kostüme, die eigentlich nichts anderes tun, als das Fehlen jeglicher Speckröllchen zu betonen. In den Filmen selber wird gecremt und geschmiert, was das Zeug hält. Selbst Grossmütter versuchen, mit Dreissigjährigen mitzuhalten und werden gelobt, wenn sie – von hinten – wie solche ausschauen. Natürlich haben die Filmfiguren auch einen tollen Job in einer der «grossen Firmen». Daneben schlemmen, feiern und trinken sie wacker Soju –  und das nicht zu knapp. 

Beim Zuschauen kommt einem bald der Verdacht, bei diesem ganzen schönen Schein gehe es nicht mit rechten Dingen zu und her. Allein schon die Frage, wie das alles –Schönheitspflege, Job, Familie, Feiern – zeitlich aufgehen soll, überfordert mich. Und gibt es denn in Korea nur schöne Menschen? In den Filmen kommen auch ein paar übergewichtige Figuren vor: Fischverkäufer, Bäuerin, alte Jungfer. Erfolglos. Ungebildet. Selber schuld. Hätten sich ja mehr bemühen können. Kinder werden behandelt wie kleine Erwachsene: auf Leistung in der Schule getrimmt, Tränenvergiessen kommt nicht in Frage. Mit Spott überschüttet wird, wenn sich so ein Kind kindlich benimmt.

Filme und Romane entspringen der Phantasie, könnte man einwenden. Doch ich behaupte: die Phantasie nährt sich aus dem, was die Augen beobachten und spiegelt demnach die Realität.

Und damit wäre ich bei dem Roman von Frances Cha, der dieser Tage beim Unionsverlag unter dem Titel Hätte ich dein Gesicht erscheint. Die Autorin lebt zwar in Amerika und Seoul. Wer ihren Lebenslauf googelt, entdeckt auch das Bild einer schönen Frau, die einer koreanischen Serie entsprungen sein könnte. Oder eben dem entspricht, was heutzutage Verlage suchen: junge Frau mit Sexappeal, die schreiben kann und von der man durchaus noch ein paar Bücher erwarten darf.

Im Roman Hätte ich dein Gesicht taucht der Leser ein in das Leben von Ara, Kyuri, Sujiin, Miho und Wonna. Fünf noch junge Frauen auf der Suche nach einem Weg, ein wenig glücklich zu werden. Ara stammt aus einfachsten Verhältnissen. Sie ist nach einem Überfall verstummt und wird demnach als behindert betrachtet. Kyuri arbeitet in einem Room Salon. Sie trinkt nächtelang mit Männern, sie ist gesundheitlich angeschlagen, das Geld rinnt ihr durch die Finger. Ihr ganzes Glück sind die Handtaschen, die ihr ihre Stammkunden gelegentlich schenken. Sie ist verliebt in Bruce, einen Kunden. Auch ihre Freundin Sujin möchte in einem Room Salon arbeiten, doch die Augen-OP, die sie sich hat machen lassen, ist nicht geglückt. Das hält sie aber nicht davon ab, sich auch den Rest ihres Gesichts zurechtmeisseln zu lassen. Um diesen Schritt zu machen, muss sie sich aber blind stellen, sonst würde sie die Verzweiflung in den Augen ihrer Freundin Kyuri sehen. Miho wiederum ist Künstlerin und hat sich in einen reichen Mann verliebt. Seine Familie wird sie nie als Schwiegertochter akzeptieren. Wonna ist verheiratet. Allerdings hat sie Mühe ein Baby zu bekommen. Dies belastet sie und ihre Ehe.

Frances Cha beschreibt eine Gesellschaft, in welcher Aufstieg zwar erwünscht, ja geradezu gefordert wird. Erfolg ist jedoch an allerhand Bedingungen geknüpft. Ein geradezu unmenschlicher Fleiss ist das eine. Doch der nützt wenig, wenn jemand nicht die richtigen Schulen besucht, die richtigen Beziehungen oder Familienbande plus Geld hat. Zweite Bedingung ist eine makellose Erscheinung nach einem geradezu unmenschlichen Schönheitsideal. Drittens der Wille, sich zu unterwerfen: der Firma, dem Chef, den Gebräuchen, den Männern. Codes sind allgegenwärtig. Über das was schief läuft oder laufen kann, wird nicht gesprochen. Fehler gehören nicht an die Öffentlichkeit, noch nicht einmal in den Freundeskreis. Und wo Probleme verschlossen werden, kann auch keine Frage auftauchen, wie man die Dinge ändern, verbessern könnte. So strampelt jeder und jede vor sich hin. 

Wie einsam so ein Leben inmitten einer Grossstadt wie Seoul sein kann, zeigt Frances Cha in ihrem Roman auf. Sie lässt jede ihrer Figuren einzeln zu Wort kommen. Schicksale tun sich auf, die sprachlos machen. Doch, manchmal ist auch Freundschaft zu spüren, doch letztlich ist die Tristesse der fünf Frauen überwältigend. Die Geschichte lässt offen, wem es gelingt, sich zu einem glücklicheren Leben durchzuwursteln. Man kann nur hoffen, die fünf Frauen finden einen Weg, die Fesseln abzuschütteln und gemeinsam der rigiden Gesellschaftsordnung eine lange Nase zu drehen.

Autorin: Frances Cha

Titel: Hätte ich dein Gesicht, Roman, übersetzt aus dem Englischen von Nicole Seifert

Verlag:  Unionsverlag, 2022, gebunden, 285 Seiten

ISBN 978-3-293-00586-0, 23.­– Euro/31 Franken

Kurz zusammengefasst: Das perfekte Gesicht, den perfekten Körper, die perfekte Familie, den perfekten schulischen Abschluss, den perfekten Job. Danach strebt in Seoul jede und jeder. Aber Gott macht bei der Verteilung der Gaben Fehler. Diese Fehler müssen ausgebessert werden. Nur dann gelingt es: das perfekte Leben.

Für wen: Alle, die schon mal von einer Schönheits-OP gedacht haben, aber sie sich nicht leisten können. 

Retour du jour, Concarneau 13. Juni 2022

Sonntags in Beg Meil

Blickdicht gemachte Herrlichkeit 

reinweisse Pracht, dekoriert

von ausgedehntem Grün

Hier gibt keiner was her –

schon gar nicht fürs Auge –

als wäre Hergeben unschicklich

Hier spart kein Schlossherr an

Maschendraht plus Kameras

gegen égalité, fraternité

Liberté steht als Wolke am Himmel

sitzt – ganz vulgär – beim Picknick 

klettert über Felsen

duftet nach Sonnenöl

verpasst die Wahlen

baut Sandburgen

und jauchzt beim Sprung

ins Meer, spart nicht 

beim Café Gourmand

Möwen, Kormorane, Wandervögel und weit und breit kein Kommissar Dupin

Es wird wohl in diesem Blog wieder mal Zeit, über Bücher zu reden. Gerade liegt mir die Bretagne sehr am Herzen und der weisse Strand von Concarneau zu Füssen. Vielleicht zieht es ja den einen oder anderen von euch hierher. Doch auch wenn ich in Concarneau bin, bedeutet das nicht, dass ich nun Commissair Dupins Abenteuer erwähnen werde. Und ebenso werde ich euch nichts über Merlin und König Artus erzählen. 

Wer reist, braucht einen Reiseführer. Vor mir liegen zwei. Beide haben dieselben Autoren (Beckmann/Potting), was wohl ein Zufall ist, habe ich beide Bücher doch geschenkt bekommen.

Ville close Concarneau

Glücksorte in der Bretagne beschreibt 80 Orte, die glücklich machen sollen. Ein paar von ihnen habe ich besucht und fand sie durchwegs reizvoll und jede Mühe wert. Die Beschreibungen in Glücksorte in der Bretagne haben jeweils auf einer Seite Platz, was Lesefaulen entgegenkommt. Ergänzt wird der jeweilige Vorschlag durch ein Ganzseitenbild. Geht man auf dem Chemin des Douaniers, kommt man automatisch an einigen der vorgestellten Reiseziele vorbei, so an den rosa Granitfelsen zwischen Perros und Guirec oder der Île Grande, wo es noch Überreste des Granitabbaus zu bestaunen gibt. Andere Glücksorte liegen einen kurzen Abstecher vom Zöllnerweg entfernt, wie das verwunschene Vallée de Trouaiero oder die vermeintlich schneebedeckte Insel (Sept Îles), ein Vogel- und Naturschutzgebiet, das jeden zum Staunen bringt. Morlaix, die Stadt, die unter einer Eisenbahnbrücke liegt, ist so oder so einer Reise wert, und mit etwas Glück startet bei einem Besuch der örtliche Segelverein zu einer Regatta. Alle diese Orte und viele mehr beschreibt die Autorin anschaulich in diesem Büchlein. Ergänzt wird das Buch mit einer rudimentären Bretagne-Karte, wo die einzelnen Spots eingezeichnet sind. Leider folgt die Nummerierung der Glücksorte keinem System oder einer Reiseroute, so dass man als Glücksucher wacker suchen und blättern muss. Mehr ein Buch zum Gluschtigmachen, denn ein praktischer Führer.

Das zweite Buch heisst Küstenwandern in der Bretagne und befasst sich vorwiegend mit dem oben erwähnten Chemin des Douaniers (auch GR34 bezeichnet). Der Weg beginnt in St.Malo (auch ein Glücksort, allerdings besser nicht zur Hauptreisezeit) und führt mehr oder weniger der ganzen bretonischen Küste entlang: durch Eichen- oder Zypressenwald, vorbei an Stechginsterhängen, mal an herrlichster Aussichtslage, mal durch bewohntes Gebiet und dann wieder vorbei an Felsen oder unter schattigen allees vertes. Wer den ganzen Weg abwandern möchte, sollte sich ein paar Monate freischaufeln. Das Team Beckmann/Potting hat in seinem Führer ein paar der schönsten Strecken beschrieben. Was das Buch aber besonders kostbar macht, sind die Informationen, die rund um die Eigenheiten der Bretagne geliefert werden. Dagmar Beckmann hat auf ihren Wanderungen viel recherchiert zu Themen wie Algenernte, Muschelzucht, Strandverschmutzung durch Tankerunfälle, Seenotrettung oder Leuchttürme. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Ebbe und Flut: die Autorin beschreibt spannend, anschaulich und informativ. Mit diesem Buch kommen alle auf ihre Rechnung, die mehr über ihre Urlaubsziele erfahren möchten. Die Themen richten sich nach den jeweiligen Küstenabschnitten ihrer Touren. Eine grobe Bretagnekarte im Umschlag ergänzt das Buch. Manko: Ein Stichwortverzeichnis wäre eine hilfreiche Ergänzung.

Ein Reisetipp für alle, die in der Bretagne wandern wollen: Eine Wanderkarte in kleinem Massstab ist äusserst hilfreich. Als Schweizer gewöhnt man sich zwar nach einigen Tagen an die zurückhaltende Auszeichnung der Wanderwege, das heisst aber noch lange nicht, dass man vor Irrwegen gefeit ist. Grosse Ausnahme ist der GR34, der nicht nur tipptopp in Schuss ist, sondern auch ebenso ausgeschildert.

Buch: Küstenwandern in der Bretagne, Entdeckungstouren auf dem Zöllnerpfad

Autoren: Dagmar Beckmann/Christoph Potting

Verlag:  Rotpunktverlag, 2. Auflage 2020

ISBN 978-3-85869-881-0, 29 Euro

Für wen: Genusswanderer oder Kilometerfresser

Buch: Glücksorte in der Bretagne

Autoren: Dagmar Beckmann/Christoph Potting

Verlag:  Droste, 2021

ISBN 978-3-7700-2205-2, 15 Euro

Für wen: Reisende mit Glückgarantieansprüchen

Auf der Île Grande

Retour du jour, Concarneau, 30. Mai 2022

«Oh mon Dieu», ruft Madame. Sie sitzt auf ihrem Plastikstuhl im Schatten des Hauses und wartet auf ihre Spatzen und dass einer auf eine Plauderei vorbeikommt. 

«Oh mon Dieu», ruft sie entsetzt, als ihr jemand erzählt, jener Mann dort spreche ihre Sprache nicht.

Die Spatzen sprechen auch kein Französisch, aber sie mögen Bisquits.

Madame ist über neunzig und wohnt au cinquième unter dem Dach. Die Treppe hoch, aber Meerblick. Seit vierzig Jahren. «Oh mon Dieu.»

«Oh mon Dieu», heute kommt die Dame von der Altenbetreuung zu spät. Madame verkürzt sich das Warten mit ein paar Schritten auf dem Parkplatz.

Madames Schultern schmerzen vom vielen Gehen gestützt auf ihren Stock. «Oh mon Dieu.»

Wenn Madame den Lift in den vierten nimmt, dann nur in Gesellschaft. Ein Kavalier findet sich immer.

«Oh mon Dieu.»

Retour du jour_Perros-Guirec, 18. Mai 2022

Glückliches Brest

Mit etwas Glück singt heut der Pont du Recouvrance

Mit etwas Glück ruht die „Abeille Bourbon“ am Quai

Mit etwas Glück ist dieser Krieg weit weg

Und draussen auf der Insel

Wo die Atom-U-Boote – sagt man – liegen,

ist alles wie es immer ist

Mit etwas Glück siehst du ein Schiff im Trockendock

oder es öffnet sich die Brücke, um eins durchzulassen

Justement, wenn du am Seil darüberschwebst

Mit etwas Glück regnet es auch heute

Rechtzeitig, mit etwas Glück, kommt ein Café

Und du bleibst schön im Trockenen

Retour du jour, Perros-Guirec, 12. Mai

Heute entstieg Tarzan dem Meer

Auf seiner Haut perlte das Wasser, floss

zögernd den Muskelsträngen entlang

Es klebte das Beinkleid an seinem Gesäss

Wie er so ging, ganz aufrecht, ein Bild

gemacht für Götter und für den Louvre

Doch dann war es doch nur Jean-Luc

Jean-Claude oder Yann und der nächste Tarzan,

der ins Wasser stieg, befand es zu kalt