Zürich: Wo Kaffeemaschinen beim Morden helfen

Florian Berger hat genug. Seine Lebenspartnerin hat ihn vor die Türe gesetzt, er ist so gut wie pleite und seit zu langer Zeit sitzt er vor dem ersten Kapitel seines neuen Romans. Über den ersten Absatz kommt er allerdings nie hinaus. Und jetzt hat er sich im Zürcher Hotel Schwanen eingecheckt. Entweder das mit dem Schreiben läuft jetzt wieder oder er wird sich umbringen. 

Susanne Mathies hat in ihrem neuen Krimi Mord mit Limmatblick einen urzürcherischen und überdies renommierten Schauplatz gewählt: das Hotel Storchen an der Limmat, wohl eines der meistfotografierten Sujets der Limmatstadt. Susanne Mathies Antiheld Florian Berger kommt nicht sehr weit mit seinen Plänen: Während er seinen Selbstmord in Szene setzt, wird im Nebenzimmer eine Frau angeschossen. Florian Berger wird verdächtigt, die Tat begangen zu haben. Die Frau ist nicht irgendwer, sondern Florians Ex-Partnerin Lena. Was folgt ist eine Hetzjagd durch Zürich und mitten hinein in Mord und mafiöse Machenschaften rund um Immobilien und Drogen. Hilfe bekommt Florian von seiner Kollegin Cressida Kandel.

Susanne Mathies hat erneut einen temporeichen Zürich-Krimi geschrieben, in welchen sie nicht nur Lokalkolorit sondern auch ein aktuelles, brisantes Thema hineinpackt: in die Jahre gekommene Häuser, die auf die Schnelle von ihren Mietern «befreit» werden sollen. Dass man dafür Kaffeemaschinen einsetzen kann, auf die Idee wäre ich noch nicht gekommen. 

Titel: Mord mit Limmatblick, Krimi, 246 Seiten, Paperback

Autorin: Susanne Mathies

Verlag:  Gmeiner, 2022

ISBN 978-3-8392-0285-2 , SFr. 19.10 / 15.– € 

Kurz zusammengefasst: Hinter der schönen Fassade des Hotel Storchens in Zürich geschehen unfassbare Dinge. Der erfolglose Autor Florian Berger ist zur falschen Zeit mit den falschen Absichten am falschen Ort. Und sollte jetzt beweisen, dass er kein Mörder ist.

Für wen: Zürcher Eiltempo für Krimifans.

An die Türe des Exils klopfen

Dafer lebt als irakischer Flüchtling in der Ostschweiz. Er hat mittlerweile eine Arbeit im Gastgewerbe gefunden. Bis es soweit war, hat er die üblichen Stationen durchlaufen: Asylantrag, Aufenthalt in bisweilen zweifelhaften Unterkünften zusammen mit anderen Unglücklichen, die in die Schweiz gelandet sind. Freundschaften sind schwer zu knüpfen: keiner der Asylanten weiss, ob der Zimmernachbar morgen noch hier sein wird. Wird er ausgewiesen, in ein anderes Dorf geschickt, wird er tot sein? 

Usama Al Shahmani beschreibt in seinem Roman Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt die Gründe, weshalb ein Iraker zu Zeiten Saddams das Weite sucht und seine Ankunft in der Schweiz. Seiner Hauptfigur Dafer gelingt es nach und nach Fuss zu fassen. Doch es ist dies ein Stehen auf wackeligen Beinen. Zu gross sind die Verluste, die er als Flüchtling gemacht hat und immer noch macht. Und die «Gastgeber» glänzen eher durch Abweisung und Gleichgültigkeit, denn durch Verständnis. 

Wunderbar die Methapern, die Al Shahmani für Dafers Zustand verwendet: 

Ihm ist als klopfe er an die Türe seines Exils. Weder wird die Tür geöffnet, noch hört er auf zu klopfen

Wem dabei die biblische Herbergsgeschichte in den Sinn kommt, liegt sicher nicht falsch.

Zwar hat Dafer es geschafft bis ins Exil, doch vergleicht er sich mit einem Schachspieler, der gegen sich selber spielt: Verlierer und Gewinner zugleich.

Verloren hat er sein Ursprungsland. Kehrt er dahin zurück, findet er sich nicht mehr zurecht. Schlimmer noch: er ist derjenige, der das Land und die Familie in den Augen seiner Landsleute im Stich gelassen hat. In seine alte Heimat kann er nur noch als Gast. Selbst sein altes Zimmer ist mittlerweile nur noch eine Abstellkammer

Eine besondere Rolle spielt Dafers Grossmutter. Sie ist eine grosse Geschichtenerzählerin und schafft die Grundlage dessen, was Dafer in seinem Exil über Wasser hält: die Freude an der Sprache oder vielmehr an Sprachen und Geschichten. In ihnen findet Dafer eine, seine Heimat.

Überrascht hat mich als Schweizerin ein Detail: Dafer tut es den Schweizern gleich und wandert in der Freizeit in den Wäldern umher. Ich versuche mich zu erinnern, ob ich schon je einen unserer Asylanten in den Wäldern angetroffen habe. Ja, ich habe schon eine Arbeitskolonne von Flüchtlingen beim durch die Gemeinde organisierten Arbeitseinsatz angetroffen. Aber als Freizeitvergnügen: Fehlanzeige! Und hier beschreibt nun ein Autor einen einsamen Exilanten, der das Spazierengehen und Wandern für sich entdeckt hat und Gewinn daraus zieht. Ich wünschte mir, das käme häufiger vor: Als Mittel, Geist und Seele zu beruhigen oder auch nur, um die Gegend kennen- und lieben zu lernen.

Al Shahmani hat auch dafür eine schöne Methaper gefunden:

Im Wald spürt Dafer einen unsichtbaren Faden, der ihn zusammenhält.

Titel: Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt, Roman, 172 Seiten, gebunden

Autor: Usama Al Shahmani

Verlag:  Limmat Verlag, 2022

ISBN 978-3-03926-042-3 , SFr. 30.–, 26.– € 

Kurz zusammengefasst: Im Irak unter Saddam ist keiner seines Lebens sicher. Dafer hat ein Theaterstück geschrieben, das die Schergen auf den Plan ruft. Er flüchtet und landet in der Schweiz. Doch der Ort, zu dem er geflogen ist, macht es ihm nicht leicht.  Poetisch, und trotz der traurigen Geschichte positiv. 

Für wen: Besonders lehrreich für Leute, die meinen, schon alles über Flüchtlinge zu wissen. 

Poesie aus einer widersprüchlichen Welt

Gelegentlich noch werden mir Lyrikbände zugestellt. Das hat einerseits damit zu tun, dass ich mal für die Literaturzeitschrift orte tätig war, anderseits mit dem Wissen der poetischen Täter und Täterinnen um die seit nunmehr 40 Jahren erscheinende Poesieagenda*, die ich immer noch mit Susanne Mathies gemeinsam zusammenstelle. Es gibt natürlich noch einen anderen Grund, dass Lyrikerinnen und Lyriker Wege suchen, auf ihr Werk aufmerksam zu machen: Es werden kaum mehr Besprechungen zu lyrischen Erzeugnissen geschrieben, obwohl jährlich Gedichtbände zu Hauf gedruckt werden.

Sei’s drum: heute geht es hier um Lyrik!

Und immer diese Einsamkeit

Christoph Ferber übersetzt gerne italienischsprachige Dichter. Neu ist nun im Caracolverlag eine von ihm zusammengestellte und übersetzte Gedichtesammlung von Plinio Martini erschienen (E in ogni crepa dorme una lucertola/Und in jeder Ritze schläft eine Eidechse). Die meisten werden Martinis Tessin-Roman Nicht Anfang nicht Ende kennen. Falls nicht: es ist die Geschichte eines Tessiners, der nach langen Jahren in Amerika wieder ins heimische Maggiatal zurückkehrt und sich seinen Erinnerungen stellt. Die Gedichte Martinis waren mir bisher nicht bekannt. Auch sie erzählen von einem Tessin, in dem wohl Lerchen singen und Blumen blühen, aber die alltägliche Mühsal und menschlicher Schmerz an die Endlichkeit erinnern. Gedichte auch, die von der Liebe reden, jener zu der Landschaft, den Tieren und Pflanzen ebenso wie zu den Menschen. 

Kein Wind, der am Nachmittag

Einen einzigen Hauch nur bewegt, 

der die Hitze der Steine berührt, wenn

die verlassene Strasse du überquerst

und in den hohen Nestern

auch die Schwalben verstummen.

Du schliesst lautlos das Tor,

ich aber weiss, dass du im Schatten 

kurz innehälst, um das Haar dir

neu zu verknoten, und im Vorraum glänzen 

wie Goldtropfen die Augen.

E in ogni crepa dorme una lucertola/Und in jeder Ritze schläft eine Eidechse, Gedichte von Plinio Martini, ausgewählt und übersetzt von Christoph Ferber, Deutsch /Italienisch, Caracol-Verlag 2023.

Reisen heisst untreu sein

Irène Bourquin hat im selben Verlag gleichfalls einen neuen Gedichtband herausgegeben: Schattenkaleidoskop. Die Dichterin hat schon in anderen Gedichtbänden ihre Reisebeobachtungen in Gedichtform gegossen. In Schattenkaleidoskop durchstreifen ihre Leser mit ihr die Provence und Ligurien, bleiben vor Statuen stehen, schlendern durch Kirchen, spazieren am Strand und entdecken dabei Befremdliches im Alltäglichen. Das Auge pickt sich Widersprüche heraus, es werden Ginsterbüsche zu Flammen, Cirruswolken wedeln über den himmlischen Laufsteg und Hunde zeigen glitzernde Aureolen.

Am Ende des Strands

Zwei Felsflossen

Elegant 

ein Flügelpaar 

hellgrau im Türkis

Schattenkaleidoskop. Gedichte von Irène Bourquin, Caracol-Verlag 2023.

Ihr seid der Abgrund und der Ursprung

Der dritte Gedichtband, den ich hier vorstellen möchte, ist gleichfalls einem italienischsprachigen Dichter gewidmet und im Limmat-Verlag erschienen. Autor der Gedichte ist Fabio Pusterla, die Übersetzungen sind wiederum von Christoph Ferber. Das Nachwort hat Georges Güntert verfasst. Der Titel des beeindruckenden Bandes lautet: In der vorläufigen Ruhe des Flugs/Nella quite provvisoria del volo. Die in diesem Buch vereinten Gedichte stammen aus den Jahren 2010 bis 2020. Gedichte, in welchen das einzelne Lebewesen als Teil des Kollektivs Welt verstanden sein will. Hier ein Auszug aus einem Pusterla-Gedicht:

…sogar bei Ebbe

Tiefdruck des Blutes, des Wetters, was leitet uns da?

Eine Syntax, ein Rhythmus?

Oder der Gedanke an die Kinder,

das Rollen eines Basses, Akkorde und noch nicht, 

nein, immer noch nicht,

resignierte

Dissonanzen?

In der vorläufigen Ruhe des Flugs/ Nella quiete provvisoria del volo, Gedichte Italienisch und Deutsch von Fabio Pusterla, Übersetzung und Auswahl von Christoph Ferber, Limmat-Verlag. 

*Die Poesieagenda vom kommenden Jahr, Ausgabe 41, (siehe Bild oben) ist bereits wieder in Vorbereitung. Und wie bei jungem, vielversprechendem Wein ist es mit der Poesieagenda gleich: Vorbestellen ist nie verkehrt bei http://www.orteverlag.ch.

«Alles in diesem Buch ist wahr – auch das Erfundene»

Sasha Filipenko ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt und in der Schweiz lebt. Sein Romanheld Pjotr Nesterenko aus seinem Roman Kremulator wiederum war ein adeliger Russe, den die Kriegswirren in Europa herumscheuchten, bis er in die Sowjetunion zurückkehrte und dort zum Direktor des Moskauer Krematoriums wurde: ein wahrlich heisser Job, vor allem zu Zeiten der Massensäuberungen der Stalin-Diktatur. Durch Nesterenkos Hände und den Keller des Krematoriums gingen nicht nur gewöhnliche Menschen, sondern eine ganze Reihe von Berühmtheiten. 

Dann, 1941, wird Nesterenko verhaftet. Hier setzt der Roman von Filipenko an: Zwischen dem Verhafteten und seinem Ermittler findet ein Schlagabtausch statt, den man angesichts der drohenden Erschiessung von Nesterenko nicht erwarten könnte und der vergnüglich zu lesen ist, auch wenn einem zwischendurch der Atem stockt. Nesterenko setzt seinem voreingenommenen Gegenüber seine Intelligenz und beissenden Spott entgegen: Mit dem Tod kann man ihm nicht drohen, den Tod probt er seit Jahren.

Nesterenko habe, so erzählt Sasha Filipenko in einem Interview, tatsächlich gelebt. Die Erforschung seiner verschlungenen Lebenswege habe den Autor viel Zeit und Aufwand gekostet, einige Akten seien immer noch kaum zugänglich (Wikipedia schweigt sich über ihn aus.) Inwieweit der Roman dem echten Leben des ersten Moskauer Krematoriumdirektors folgt, ist unwesentlich. Tatsache ist, dass – ob wahr oder ersonnen ­– das Leben Nesterenkos abenteuerlicher nicht hätte sein können. Als Offizier kämpft er für das Zarenreich und gegen die Revolution. Das macht ihn später zum Flüchtling. Als er Jahre danach den Versuch wagt, in die Heimat zurückzukehren, muss er sich den neuen Gegebenheiten unterordnen. Grundsätzlich gilt er in der Sowjetunion als höchst verdächtig. Weil er deutsch spricht und die Erbauer des neuen Moskauer Krematoriums Deutsche sind, ist er die ideale Besetzung für den Job als Direktor der Anlage. Doch nun, im Jahre 1941 ist wiederum Krieg und die Deutschen stehen vor den Toren Moskaus. Keine guten Zeiten für verdächtige Subjekte! Nesterenko versucht, seinen Ermittler zu durchschauen und dem Tod von der Schippe zu springen. Doch sein Gegenüber erweist sich nicht nur als ergebener Funktionär, sondern in seinem Eifer auch als talentiert. Er lässt Nesterenko in mehreren Verhören seinen Lebensweg erzählen, um ihm am Ende aus dem Gehörten einen Strick zu drehen.

Filipenko führt uns auf in eine Schreckenszeit zurück, lässt Berge von Revolutionsopfern vor unseren Augen auftauchen und zu Staub und Asche zerfallen. Gewaltherrschaft, die Unterdrückung von Andersdenkenden, das Auslöschen von Menschen und Geschichte, eine Welt, in der die Lüge und das Verdrehen von Tatsachen die Regel ist. Kommt uns das bekannt vor? Putin und seine belarussischen, türkischen, chinesischen, syrischen Freunde lassen grüssen. (Die Liste ist beliebig ausbaubar.)

Die Menschen entscheiden sich ­– die Gründe dafür sind mal logisch, mal gewagt, mal schlichtweg dumm –­ in ihrem Leben öfters falsch. Die Konsequenzen dieser Entscheidungen sind aber unabsehbar. Dies ist die Quintessenz von Filipenkos Kremulator

… Von klein auf bringen uns die grossen Schriftsteller bei, dass der Mensch ein komplexes Wesen sei, aber die Leute hier lassen eher das Gegenteil vermuten. Wäre ich Schriftsteller, würde ich sie ganz flach darstellen. Ausser aufgeblasen und dumm sind sie nichts …

Hier also ein Autor, der uns solche und andere Wahrheiten um die Ohren schlägt und uns damit wachrütteln möchte. Ein Roman, der zwar in der Geschichte zurückgreift, aber aktueller nicht sein könnte.

Titel: Kremulator, Roman, 255 Seiten, gebunden

Autor: Sasha Filipenko, übersetzt von Ruth Altenhofer

Verlag:  Diogenes, 2023

ISBN 978-3-275-07239-6, 25 Euro/34.90 Franken

Kurz zusammengefasst: Der erste Direktor des Moskauer Krematoriums, Nesterenko, wird 1941 verhaftet und von einem selbstgerechten Ermittler zu seinem Leben befragt. Dem Gefangenen wird Spionage vorgeworfen. Ihm droht die Erschiessung. Es geht ans Eingemachte. Oder wie es das Vorwort sagt: Alles in diesem Buch ist wahr ­­– selbst das Erfundene.

Für wen: alle und alle anderen auch. 

Etwas ist immer

Fabio Andinas Roman Tage mit Felice ist eines jener Bücher, die man nicht so schnell vergisst. Schon deshalb konnte ich kaum erwarten, Andinas nächsten Roman Davonkommen zu lesen. Auch diese Geschichte spielt wieder im Tessin, man kann sich vorstellen im selben Dorf im Bleniotal, das wir schon aus Tage mit Felice kennen. 

Protagonist ist diesmal ein junger Mann, der von seiner Gattin vor die Tür gesetzt wird. Damit nicht genug: Mit allen möglichen Tricks versucht sie, den gemeinsamen Sohn von seinem Vater fernzuhalten. Die daraus entstehenden Grabenkämpfe, unbefriedigende Gelegenheitsjobs, Schulden und die Notwendigkeit, eine Hütte in einem Bergdorf zu beziehen, machen dem «Helden» dieser Geschichte das Leben schwer. Er driftet immer mehr in eine Tabletten- und Alkoholsucht ab. Wäre da nicht der Sohn, mit dem er jedes zweite Wochenende im Bergdorfverbringt, wer weiss, ob der verzweifelte Mann wieder auf die Beine kommen würde. Das Ende des Romans lässt hoffen.

Der Ich-Erzähler deliriert. Oder er ist wütend. Vor allem auf seine Frau, die sich von ihm scheiden lassen will, bereits einen Neuen hat und ihm den Kontakt zu seinem Sohn verweigert. Er erträgt seine Tage nur noch im Dämmerzustand, hetzt durch eine ihm fremd und feindlich gesinnte Welt. Doch dann landet er bei Dr. Bianchi, der ihm klipp und klar sagt, er müsse dem Leben zulächeln, oder er werde aus dem Fenster des fünften Stocks springen. 

Das mit dem Lächeln gelingt vorerst nicht, denn «etwas ist immer». Die nervenden Menschen, der alte Volvo mit seinen Macken, die Musik in seiner Lieblingsbar, die zickende Ex, Geldmangel, der lange Weg von seinem Bergdorf in die Stadt. Manchmal weiss unser Protogonist auch nicht mehr, was er in der vergangenen Nacht getan hat. Dann steht meist ein gestohlener Rhododendron auf seiner Gartenmauer. 

Man könnte diesen Roman trotz gelegentlicher Situationskomik als blossen Selbstmitleidsmonolog und Männer-Gejammere über die bösen Frauen lesen. Das würde dem Text aber nicht gerecht werden. Vielmehr ist es eine Geschichte, die nach und nach vom Lärm in die Stille führt. Denn was unser Held zu betäuben versucht, ist das Dröhnen der Verzweiflung. Verzweiflung vor allem über das misslungene Eheleben, das harmonisch begann und seinen Höhepunkt in der Geburt des Sohnes feierte, um dann in Vorwürfen, Unverständnis, Verachtung, Verlassenheit zu enden. 

Andinas Hauptfigur ist allein; gestohlene Rhododendren ändern das nicht, auch wenn sie im Garten seiner Berghütte ordentlich gedeihen. Doch gerade das Alleinsein, die Abgeschiedenheit scheinen dem jungen Vater gut zu tun. Rast er zu Beginn noch zwischen Arbeit, Arzt, Juristin und Bergdorf hin und her, so wandert er später durch die Wälder, schafft Ordnung, hackt Brennholz, heizt ein, beginnt wieder zu malen. Vor allem aber geniesst er die knapp bemessene Zeit mit seinem Sohn. Andina beschreibt eine liebevolle, beinahe zu rührende Vater-Sohn-Beziehung.

Allerdings: Etwas Teuflisches passiert immer. Jedoch mit der Zeit scheint es, als wäre diese Tatsache zu meistern.

Dass die Exfrau in diesem Roman als unsensible Hexe wegkommt, lässt bei mir als Leserin den Wunsch aufkommen, man hätte der Frau mit etwas gutem Willen ein Fünkchen Güte zuschreiben können. Eine nur negative Figur wirft Fragen auf, die auf den Autor zurückfallen. Klar, es gibt sie, Elternteile, die ihre Streitigkeiten auf dem Rücken der Kinder austragen. So gesehen auch ein Buch, wie man es auf keinen Fall machen soll, möchte man seinen Kindern nach einer Scheidung den Gang zum Psychologen ersparen.

Besonders gut an diesem Roman gefielen mir: 

Das Tempo: zu Beginn gehetzt, mit der Zeit ruhiger. 

Andinas feine Beobachtungsgabe und Direktheit. Wie er beispielsweise beschreibt, was ein Wachmann in einem Luxusladen erlebt und was ihm so durch den Kopf geht, ist einfach wunderbar. Der Autor ist ein toller Erzähler mit einer grossen Gabe zum scheinbar unscheinbaren Detail.

Von 8 bis 16 Uhr musste ich die Bulgari-Boutique bewachen, während Arbeiter das Rollgitter des Haupteingangs reparierten, das auf halber Höhe feststeckte, die Leute mussten beim Rein- und Rausgehen den Kopf einziehen und ich sagte, Achtung der Kopf.

Der Aufbau: tagebuchartige, kleine Abschnitte, darüber, wie die Tage ablaufen, dazwischen immer wieder Erinnerungsbruchstücke. Der Leser begleitet auf diese Weise den Protagonisten über ein Jahr.

Titel: Davonkommen, Roman, 242 Seiten, gebunden

Autor: Fabio Andina, übersetzt von Andreas Löhrer

Verlag:  Edition blau, Rotpunktverlag, 2023

ISBN 978-3-85869-976-3, 26.80 Euro/30 Franken

Kurz zusammengefasst: Ein Mann und Vater eines vier Jahre alten Sohns soll geschieden werden und stürzt so richtig ab. Ein Haus in den Bergen wird zu seinem Refugium. Kompromisslos ehrlich. 

Für wen: Bestimmt nicht nur für Männer, die mit ihrer Ex-Frau schlechte Erfahrungen gemacht haben. Dafür ist der Roman einfach zu gut geschrieben.

Wie falsch bläst die Dorfmusik?

Auf dem Dorf ist die Welt nicht in Ordnung. Auch nicht, wenn die Dorfmusik bläst. Man erinnert sich auch gut an jenen Abend in den Achtzigern, als der Musikverein zur Unterhaltung aufspielte. Einige wollen alles gesehen haben, doch ihre Erinnerungen sind total verschieden: War es eine Verführung; eine Vergewaltigung; Sex in beiderseitigem Einverständnis; etwas, was halt passiert, aber nichts, was nicht mit einer Hochzeit geregelt werden könnte? Der Interpretationen gibt es je nach Blickwinkel einige.

So jedenfalls erzählt es uns Rebekka Salm. Sie lässt dabei ihre zwölf Protagonisten oder Randsteher selber zu Wort kommen. Das ist kein neues, aber bewährtes schriftstellerisches Verfahren. Mir gefällt, wie Salm das Dorf beschreibt: die Gemeinschaft von Menschen, die sich schon lange kennen, miteinander zu Schule gingen. Die Art von sozialer Kontrolle, die genauso gut als Nachbarschaftshilfe daherkommt. Die Art, wie man eine Balance sucht zwischen Dazugehören und Sich-selber-bleiben. Die Schublädchen, in die man sich gegenseitig steckt. Man weiss, wer in welcher Familie gross geworden ist oder klein gehalten wurde. Die Häuser, Felder, Strassen und ihre älteren oder neueren Geschichten. Und dann die Neubaugebiete, die irgendwie mitsamt zugezogenen Bewohnern nicht ins Bild passen.

Ich bin anfangs gerne in diese Welt eingetaucht, denn so oder ähnlich funktioniert das Dorf, in dem ich lebe. Doch dann, im Laufe des Lesens, habe ich zunehmenden Ärger verspürt. Ärger über die Figuren in dieser Geschichte. Beispielsweise die Frauen: die eine ist berechnend und betrügt sie ihren Ehemann; dann kommen selbstverständlich auch eine aus dem Osten stammende Dorfhure namens Chantal (wie sollte sie auch sonst heissen) vor, eine rabiate Coiffeuse und eine Verkäuferin, die sich wochenends in der Stadt rumtreibt, um Männer aufzureissen und zu benutzen. Ach ja, da ist auch noch Melanie, die nicht merkt, dass ihr Gatte es lieber mit Männern treibt. Womit auch noch das Thema Schwule abgehakt ist, nachdem der ewige Junggeselle (trauert immer noch seinem Jugendschwarm nach) und der käfersammelnde schräge Vogel abgearbeitet wurden. Die Männer in dieser Story: die lösen ihre Differenzen, indem sie sich verprügeln und entledigen sich ihres Frusts bei Chantal.

Ihr merkt es schon: das ist mir alles zu plakativ. Und irgendwie fühlte ich mich als Dorfbewohnerin nicht ernst genommen. So als wären alle Landbewohner etwas doof, etwas rückständig. Das passt natürlich alles in die derzeit und vor allem nach Abstimmungen beliebte Diskussion von einem Stadt-Land-Graben, die in dieselbe Kerbe haut. Und das in einem Land, das so dicht besiedelt ist, dass keiner mehr weiss, wo die Stadt aufhört und das Land beginnt. Wo die Städter immer weiter von der City weg wohnen.

Womit wir wieder bei den Neubaugebieten in den Dörfern sind.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in der Absicht der Autorin lag, die Dörfler (sprich Eingeborenen) zu diffamieren und ein Frauenbild aufleben zu lassen, das in die Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts passen würde. Insgesamt finde ich diese Wirkung des Romans auf mich recht bedauerlich, denn eigentlich gefallen mir Salms unverstellte Art des Erzählens und vor allem ihre wunderbaren kleinen Satz-Preziosen. Deswegen bin ich sehr gespannt auf ihr nächstens Werk.

Autorin: Rebekka Salm

Titel: Die Dinge beim Namen, Roman, Knapp, 2023, gebunden, 177 Seiten

ISBN 978-3-907334-00-3, 25 Euro/30 Franken

Kurz zusammengefasst: Auf dem Dorf sind alle miteinander verbunden und jeder weiss etwas von jedem. Die sechzehnjährige Sandra zum Beispiel wurde nach einem Unterhaltungsabend des Musikvereins schwanger. Das war 1984. Wie genau das passiert ist, dafür gibt es einige Zeugen, doch ihre Geschichten lauten völlig anders. Doch laut darüber spricht keiner. Und jetzt hat der Vollenweider einen Roman über diese Geschichte geschrieben. Die Dörfler sind sich einig: das geht gar nicht.

Für wen: Rebekka Salm ist eine junge, neue Erzählstimme, also ein Muss für Leute, die sich gerne Schweizer Literatur einverleiben.

Zu Tisch, zu Tisch, heut gibt es Türkisch

Will ich türkisch kochen, benötige ich erst mal ein paar Dinge, die es in meinem Dorfladen nicht zu kaufen gibt: Pul-Biber (rote Chiliflocken), Sumach, Bulgur, Bibersalsa, Tomatensalsa etc. Für mich ist das Kochbuch Cüisine von Elif Oskan Anlass genug, wieder einmal in jene Schweizer Stadt zu fahren, wo sich das Geschäft des «Türken meines Vertrauens» befindet. Hier riecht es anders, als in heimischen Läden, hier sind die Dinge in einer Sprache angeschrieben, die ich nicht verstehe, hier sind eigentlich alle Kunden türkischstämmig. Der Laden könnte genausogut in Istanbul, Izmir oder Edirne stehen. Oder anders gesagt: Hier bin ich fremd und muss mich durchfragen. Eigentlich ist die eineinhalbstündige Stadtfahrt nur aus Einkaufsgründen ziemlich verrückt, aber sie weckt auch schöne Reiseerinnerungen. 

Denke ich an Istanbul, so denke ich auch an die feinen Simit, die es an jeder Strassenecke zu kaufen gibt, am liebsten genossen mit einem süssen Schwarztee aus dem typischen Glas. Umso mehr freut es mich, dass Elif Oskan in ihrem Rezeptbuch Cüisine für beides ein Rezept notiert hat. 

«Das ist das beste Brot, das ich in meinem ganzen Leben gegessen habe», sagt mein 12jähriges Grosskind. Soviel zu Elifs Simit-Rezept. Die Köchin ist in der Schweiz aufgewachsen und kocht mit Erfolg in ihrem Restaurant Gül in Zürich.

Auch andere Rezepte aus Oskans türkischer Küche habe ich an meinen Kindern, Grosskindern und sogar an ihrer Ur-Oma ausprobiert. Bulgurknödel (Içli Köfte), beispielsweise. Die Hackfleischfüllung dafür ist zwar wahnsinnig butterig, aber auch wahnsinnig köstlich. Dummerweise habe ich das Tutorial fürs Knödelformen, das sich einfach herunterladen lässt, nicht angeschaut. Die Folge davon: zu wenig Füllung in den Knödeln. Was wiederum dazu führte, dass ich ziemlich viel Farce übrig hatte. Damit befüllte ich grosszügig Spitzpaprika und schob sie in den Ofen. Meine Esser und sogar die Ur-Oma waren begeistert. Auch die Ekmek (Fladenbrote) fanden reissenden Absatz. Zusammen mit dem Tante Songüls Auberginengratin ein Hit. Unbedingt dazumachen: Elifs leicht zitronige Joghurtsauce. Ein Klassiker, der einfach immer passt.

Cüisine ist aber gleichfalls ein Buch fürs Auge und eine Hommage an die Ursprungsheimat von Oskans Familie . Augenzwinkernd der Titel, und neckisch das lila Zottelchen, das aus dem Buchrücken hängt. Im Inneren wunderschöne Bilder aus der Türkei: Simitverkäufer, Sesamfelder, typische Büfes, Bilder der Familie Oskan und appetitlich angerichtete Speisen. Elif Oskan erzählt auch einiges von sich zu den einzelnen Rezepten: von wem sie stammen und was dazu passt. 

Zu den Rezepten bleibt zu sagen:

1. Vorsicht mit den Angaben zu Pul-Biber – Elif Oskan mag es offenbar scharf, jedenfalls bedeutend mehr als ich. 

2. Es lohnt sich auf jeden Fall, die Tutorial-Videos anzuschauen, es sei denn, man habe das Kochen bei einer türkischen Mama gelernt. 

3. Wer an der Butter sparen will, ist bei diesen Rezepten an der falschen Adresse.

4. Zwiebeln werden in rauen Mengen geschält und gehackt: Es werden viele Tränen vergossen.

5. Die Mengenangaben sind insgesamt grosszügig berechnet (6 Personen werden gut satt). In der Türkei sollte keiner hungrig vom Tisch gehen. Sollte es Reste geben, so werden sie am kommenden Tag wiederverwertet.

Autorin: Elif Oskan

Titel: Cüisine, Türkische Küche

Verlag: at-Verlag, 2023, gebunden, 238 Seiten

ISBN 978-3-03902-182-6, 42.­– Euro/44.­– Franken

Kurz zusammengefasst: Die Türkei von ihrer schmackhaftesten Seite. 60 Rezepte, vieles davon fleischlos, viele bekannte Klassiker wie Kebab oder Mutter-Tochter-Suppe, Pide neu interpretiert.

Für wen: Für alle, die eine Möglichkeit suchen, ganz ohne schlechtes Gewissen (ökologischer Fussabdruck, politische Bedenken usw.) in die Türkei zu reisen. 

Ist das jetzt Küchenphilosophie?

Sternekoch Heston Blumenthal stellt sich und uns bereits im Titel seines beim at-Verlag erschienenen Buchs schelmisch die Frage, ob das jetzt ein Kochbuch sei. Blumenthal besitzt ein Restaurant an bester Londoner Lage. Chefs seines Formats leiden selten an Selbstzweifeln, sonst wären sie kaum dahingelangt, wo sie sich befinden. Und nun stellt sich dieser Chef die Frage, ob das, was er uns vorlegt, ein Kochbuch sei! Interessant, dachte ich, und liess mir vom Verlag, der mir äusserst wohlgesonnen ist, den Titel Ist das ein Kochbuch, Abenteuer aus der Küche zusenden. 

Was habe ich erwartet? Rezepte natürlich, am liebsten etwas mit Raffinesse, ein paar Kochtipps vom Profi, die eine oder andere Geschichte aus der Küche eines Tausendsassas. Was ich nicht erwartet habe: Dass mir einer, der offenbar kochen kann, etwas von Quantengastronomie vorschwafelt in der Meinung, die Küche neu erfunden zu haben. Doch dazu später mehr.

Die Frage an mich lautet: Was suche ich in einem Kochbuch? Überraschende Rezepte, für deren Zubereitung ich nicht von Pontius zu Pilatus laufen muss, um alle Zutaten zu bekommen. Rezepte auch, die ich abändern kann. Rezepte die meinen Horizont dehnen; auch meine handwerklichen Fähigkeiten dürfen herausgefordert werden; mein Geschmack, meine Vorstellungsfähigkeit soll sich erweitern. 

Wenn ich Blumenthals kunstvoll typographisch gestaltetes Buch durchblättere, so finde ich hauptsächlich schlichte Rezepte: Sandwiches, Dips, sogar Käsenudeln tischt mir der Sternekoch auf. Nun habe ich nichts dagegen, Klassiker nach einem Sternekochrezept auszuprobieren. Aber ehrlich: Käsenudeln, Fish and Chips und Salatsaucen, Bratkartoffeln, Yorkshire Pudding, Omeletten!

Alles gut und fein, aber doch eher für Leute, die sich erstmals eine Küchenschürze umbinden und dabei von einem lernen wollen, der kochen kann. Daran ist nichts falsch. 

Pastillen und Grillen

Doch dann hält Blumenthals Buch auch Überraschendes bereit: Randenpastillen zum Beispiel, die nach Johannisbeere schmecken. Panna Cotta mit Hanf und ein Dessert aus Sherryessig. Grillen! 

Grillen gehören für mich eher in Gedichte als in Gerichte. Ich halte aus der Küche alles fern, was nach Maden und Insekten aussieht, da können sie noch so nussig schmecken. In der Hinsicht wird sich bei mir nicht mehr ändern. Wer aber gerne solche Sachen ausprobiert, findet bei Blumenthal einige Rezepte von Brühen bis Kecksen. Der Koch scheint auch ein Fan von Fermentation zu sein. Meine Experimente in dieser Richtung resultierten bis jetzt in zu salzigen Radieschen und höllischem Kimchi. Daran trifft Blumenthal nun wirklich keine Schuld. Mein Rat ist einfach: Wenn Sie in Fermentationsexperimente einsteigen, seien sie misstrauisch bei den Salz- und Chiliangaben ihrer Rezepte!

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Ist das jetzt Philosophie, ein Quantensprung oder einfach nur hochgestochenes Geplapper?

Blumenthal widmet dem Thema Raita/Tsaziki ein Kapitel seines Buchs. Ich bin ein Fan von Joghurtdips und -salaten. Kennen und lieben gelernt habe ich diese erfrischende Art der Joghurtzubereitung vor Jahrzehnten bei einer aus Persien stammenden Freundin; ich weiss aber nicht mehr, wie ihr Salat, für den sie Gurke und Pfefferminze ins verdicktes Joghurt schnippelte, auf Farsi genannt wurde. Mittlerweile stelle ich Joghurtsaucen in diversen Abwandlungen her, momentan ist mein liebster Dip einer mit Knoblauch und Estragon. Rezepte findet man zur Genüge, die erfrischenden Saucen/Salate sind von Griechenland bis weit in den Osten beliebt, und werden gerne eingesetzt, um die Schärfe einiger Gerichte abzumildern. Soweit so gut. Ich ärgere mich aber, wenn jetzt ein Sternekoch kommt, um «Raiziki» zuzubereiten und mir was von Quantenrezept erzählt.

Quantenküche? Laut Blumenthal soll das in etwa beschreiben, was in einer Küche neben den Aktivitäten, die notwendig sind, um eine Speise zuzubereiten, auch noch passiert: Düfte, die Emotionen wecken, Spass am Werken und die Lust, Zutaten so zu verändern und zu kombinieren, dass etwas Neues entsteht, Erinnerungen, die dabei auftauchen, Gedanken und Phantasien, die damit einhergehen. So neu ist daran nichts. Es ist im Gegenteil genau das, was Menschen immer noch dazu bringt, ihre Kochkünste zu erweitern.

Es wird gesagt, Blumenthal habe die Küche auf eine neues Level gehoben, er wird sogar als „bester Koch der Welt“ bezeichnet. Er hat Auszeichnungen erhalten, unter anderem ist er berechtigt, ein Wappen zu führen. Ob er diese Ehre dafür bekommen hat, was er an Küchenphilosophie so von sich gibt, ist fraglich. Unter der Bezeichnung Quantengastronomie spricht er von der Freiheit, in der Küche zu experimentieren, Rezepte mal so, mal so abzuändern, der Lust und der Laune zu vertrauen. Nun, wenn man dafür in England geehrt wird, dann sollte ich mir doch schnell mal meinen Adelstitel dort abholen, denn ich mache seit Jahrzehnten nichts anderes. Ich tue dies zusammen mit Millionen Köchinnen und Köchen: einfach so, weil es Spass macht und unendliche Möglichkeiten bietet. 

Ich habe dann bei Blumenthal doch noch etwas nachkochen wollen und mich für das Chicken Tikka Kebab entschieden. Das Hühnchen wird einen Tag lang in verdicktem, gewürztem Joghurt mariniert und kommt dann unter den Grill. Resultat: Geschmacksintensiv und wunderbar saftig. Eine bodenständige, nach Indiens Märkten duftende Mahlzeit. 

Autor: Heston Blumenthal, Illustrationen Dave McKean, Fotos Haarala Hamilton

Titel: Ist das ein Kochbuch?, Abenteuer aus der Küche

Verlag: at-Verlag, 2023, gebunden, 366 Seiten

ISBN 978-3-03902-191-8, 43.­– Euro/44.­– Franken

Kurz zusammengefasst: Neuartig, kunstvoll gestaltetes Kochbuch mit zahlreichen Grundrezepten, Basisinformationen und Tipps. Ein paar Experimente für Wagemutige sind auch dabei.

Für wen: Für Neulinge in der Küche, die es ohne lange Umwege auf Sternekücheniveau bringen wollen. (Das sollen sie ruhig mal probieren!)

Jedem seinen Speck in roter Sauce

«Der grosse Sprung nach vorn»: Was sich in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts Mao und seine Führungsriege so schön als wirtschaftliche Vorwärtsbewegung Chinas ausgemalt hatten, entpuppte sich als Fiasko, das in einer grossen Hungersnot gipfelte. 

Wei Zhang bearbeitet in ihrem Roman «Satellit über Tiananmen» das Thema des «grossen Sprungs» aus Sicht der kleinen Leute: der Stahlarbeiter, der Hausfrauen, der Landbevölkerung. 

Der Roman ist in einem Neubauquartier rund um ein grosses Stahlwerk angesiedelt. Grossmutter Guo freut sich, dass sie zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter hierherziehen kann. Sie wird sogleich zur Parteisekretärin ernannt, eine wahre Berufung für die energische Frau, die sogleich bereit ist, dem «grossen Sprung» auf die Sprünge zu helfen. Zuerst verdonnert sie die Quartierbewohner dazu, eine Strasse zu bauen. Doch damit sind noch keine Preise zu gewinnen und «kein Satellit wird über Tiananmen steigen»: Also entschliessen sich die Frauen der Siedlung, ihre im Stahlwerk arbeitenden Männer darin zu unterstützen Stahl herzustellen. Sie sind damit nicht alleine: Im ganzen Land schiessen Schmelzöfen aus dem Boden. Ganze Berghänge werden abgeholzt, um diese zu füttern. Wo kein Eisenerz vorhanden ist, werden einfach Pfannen, Nägel und Matratzenfedern in die Öfen geworfen. Kein Opfer ist zu gering, die vorgegebenen Ziele der Parteiführung zu erreichen. 

(Hier ein kurzer geschichtlicher Überblick, also keineswegs vollständig und alle Probleme umfassend: Grosse Teile der Landbevölkerung waren plötzlich in die Industrialisierung des Landes eingebunden und konnten sich nicht mehr der Produktion von Lebensmitteln widmen. Ausserdem war der in den kleinen Schmelzöfen von den Kommunen hergestellte Stahl oft von minderer Qualität; die Bauwerke, die schnell hochgezogen wurden, waren gleichfalls oft schlecht ausgeführt. Die Ziele der landwirtschaftlichen Massnahmen zur Ertragssteigerung konnten nicht annähernd erreicht werden,  was schliesslich zu einer grausamen Hungernot führte.)

Wei Zhang zeichnet ein liebevolles, wenn auch zeitweise humorvoll-groteskes Bild einer Leidensgemeinschaft, die bereit ist, mit Glauben und viel Einsatz für ein versprochenes Ideal zu kämpfen. Nur manchmal kommen Zweifel auf: Dann, wenn der Schmelzofen schon wieder ein menschliches Opfer fordert. Oder wenn die redenschwingenden Herren gar nicht mehr aufhören wollen, Reden zu schwingen. Oder wenn bei einer Fahrt ins ländliche Heimatdorf sichtbar wird, was der «grosse Sprung» an Schäden in der Landschaft hinterlässt. Oder wenn bekannt wird, dass in den Gemeinschaftskantinen plötzlich kein Speck an roter Sauce mehr zu holen ist. Dann kommt plötzlich die Frage auf, ob das mit den elefantengrossen Schweinen, die in China gezüchtet wurden, eventuell eine Mär sei. 

Wei Zhang beschreibt Menschen, die Gemeinschaftssinn gross schreiben, doch sollte der eigene Bauch dabei auch zu seinem Recht kommen. Kurz: man laviert sich durch; manchmal ist man hart wie Stahl und dann wieder weich wie Seidentofu; man schweigt, wo man schweigen muss; und man versucht mit allen Tricks ein Stück vom Glück abzubekommen. Unterdessen sieht man Menschen, selbst ganze Dörfer verschwinden und weiss: die neue kommunistische Gesellschaft erfordert Opfer. Und bis das Paradies kommt, sind alle gerade soweit unglücklich, dass es noch auszuhalten ist.

Ein Buch über Opferbereitschaft für ein Ideal, auch über Verführbarkeit und darüber, dass am Ende die kleinen Leute die Konsequenzen tragen, wenn die Führungsebene versagt. Kein Roman, welcher sich direkt auf die Probleme des heutigen China bezieht, es sei denn: siehe oben (man laviert sich durch und sieht zu, dass man etwas von der Speckseite für sich beiseiteschafft. Man glaubt «denen da oben», weil man etwas glauben will. Und bis alles besser wird, ist man gerade soweit unglücklich, dass es noch auszuhalten ist.)

Autorin: Wei Zhang

Titel: Satellit über Tiananmen, Roman

Verlag: Elster und Salis, 2022, gebunden, 379 Seiten

ISBN 978-3-03930-026-6, 24.­– Euro/32.­– Franken

Kurz zusammengefasst: Ende der 50Jahre in China. Der Geruch von Schweinespeck in roter Sauce zieht durch die Strassen, die Verheissungen einer neuen Gesellschaft hängen in der Luft. In Grossmutter Guos «Harmoniedorf», einem Quartier im Umfeld einer grossen Stahlfabrik, wird eifrig und voller Naivität «am grossen Sprung nach vorn» gearbeitet. Doch irgendwie will nichts klappen.

Für wen: Es kann keinem schaden, sich mit China und seinen Traumata auseinanderzusetzen.

Kauen am Seil zwischen den Zähnen

Frei von Lea Ypi: Wieder einmal ein Buch, das ich von ganzem Herzen empfehlen kann. 

Nein, ein Roman ist es nicht, auch wenn es sich fast wie einer liest, so spannend und erstaunlich, so fremd und aus einer ungewohnten Optik. Zumal für eine Westeuropäerin wie mich, die von Albanien bis zum heutigen Tag an ein Land gedacht hat, das Jahrzehnte bis zum Tod von Enver Hoxhas vollkommen abgeschottet war und seit dem Fall des eisernen Vorhangs vor sich hindümpelt. Albaner, das waren Menschen, die aus ihrem Land abgehauen waren. Manchen galt Albaner als Schimpfwort. Ja, und dann ist da noch dieser Doppeladler (Flagge Albaniens), der gelegentlich in Fussballspielen auftaucht und für Ärger sorgt. Da war aber auch die Familie, Flüchtlinge, die, nachdem sie viele Jahre mit uns im Dorf gelebt hatte, eines Tages abgeschoben wurde. Wir waren – unsere Kinder gingen mit deren Buben zu Schule – ebenso entsetzt wie machtlos. Wir wussten: In Albanien erwartete sie das wirtschaftliche Nichts. Aber sonst!?

Schande über mich … wobei zu meiner Verteidigung zu sagen wäre, dass in den 90ern der Balkan mit all seinen Ethnien und ihren Ansprüchen, den Bombardierungen und Gräueln sehr viel Aufmerksamkeit beanspruchte. Da kann so ein kleines Land wie Albanien schon mal aus dem Fokus geraten.

Nun, welch ein Glück, dass mich Lea Ypis Buch erreicht hat und mich staunen lässt, was mir so alles entgangen ist. Doch nicht nur das. Es geht nicht nur um die Geschichte eines Landes, Erinnerungen an den Zusammenbruch eines Systems und das nachfolgende Vakuum, sondern vielmehr um die Menschen: ihre Widerstandskraft, ihr Verhältnis zum den politischen Gegebenheiten und zur inneren und äusseren Freiheit. Ein überaus kluges Buch, das noch lange zu denken gibt. Hier ein Auszug:

Dass die Partei sich auf diese Weise auflösen und vervielfältigen, dass sie als die Krankheit und das Heilmittel zugleich gelten konnte, als die Wurzel alles Bösen und die Quelle aller Hoffnung, verlieh ihr etwas Mythisches, das noch Jahr später als der Grund unseres Unglücks angesehen wurde, als ein dunkler Schatten, der Freiheit wie Tyrannei aussehen liess und Notwendigkeit als Ereignis einer Wahl. Sich von ihrer allgegenwärtigen Präsenz zu befreien, fühlte sich an, wie auf einem Seil herumzukauen, das man gerade zwischen seinen Zähnen entdeckt hat. 

Lea Ypis Buch ist ein Buch der Erinnerungen an die 90er und zur Frage, was denn eigentlich Freiheit ist: Sie erinnert sich an die Tage, als erste Proteste in Tirana gegen das Regime von Hoxha und die Partei laut wurden. An die sprachlichen innerfamiliären Regelungen, wenn es um Menschen ging, die wegen ihrer «Biographie» im Gefängnis sassen. An die systematische Gehirnwäsche, der die Kinder ausgesetzt waren und die Ausweichmanöver der Familie, wenn die Begeisterung der kleinen Lea für Sozialismus, Stalin und Konsorten allzu nervig war oder komische oder gar gefährliche Züge annahm. Besonders intensiv und eindringlich fand ich die Tagebucheinträge der 18jährigen Lea aus dem Jahr 1997, als Albanien im Bürgerkrieg stand und viele Menschen ihre Ersparnisse an Pyramidenfirmen verloren hatten. Es gäbe noch vieles aus diesem Buch herauszupicken: Ich empfehle, es selber zu lesen, und vielleicht noch einmal zu lesen, und noch einmal. Es gibt einiges daraus zu lernen, auch weshalb wir so glauben und denken wie wir glauben und denken.

Autorin: Lea Ypi

Titel: Lea Ypi, Frei, Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Suhrkamp Verlag, 2022, gebunden, 333 Seiten

ISBN 978-3-518-303-47, 28 Euro/42.90 Franken

Kurz zusammengefasst: 90er-Jahre in Albanien. Lea – bis anhin gefüttert mit sozialistischen Slogans und geprägt von einer kindlichen Liebe für Enver Hoxha – erlebt den Zusammenbruch des rigiden sozialistischen Regimes und wächst hinein in eine wirre Zeit, geprägt von wirtschaftlichem Notstand, kriminellen Machenschaften, Hoffnungen, schwierigen Reformen, Bürgerkrieg, Fluchtgeschichten. Über allem die Frage: Wie lebt, interpretiert und erlebt der Mensch Freiheit.

Für wen: Ausnahmslos alle.