Dichtes Gewebe aus Gewalt, Schuld und Schweigen

Die Fabres, eine angesehene, traditionsbewusste normannische Familie, die in Paris lebt, haben ein Problem:

 «Sie sahen sich mit einem jungen Mann konfrontiert, der unbedingt aufsteigen wollte, und mit einer Frau, die unbedingt lieben wollte – eine Allianz, gegen die man nur schwer ankam.»

Der junge Mann hiess David Wagner, die junge Frau Clémentine Fabre. Das Problem der Fabres führt zu Verrat. Und zu einem generationenübergreifenden Schweigen innerhalb der Familie.

Es waren die späten Dreissigerjahre. Die Deutschen würden Frankreich überrollen und David, eben jener aufstiegswillige Sohn polnischer Juden, würde deportiert werden. Er hatte es gewagt, die Frau seines Schwagers Marcel zu begehren. Wäre er bei seinen Plänen rund um Clémentine geblieben, vielleicht hätte sein Leben und das der Fabres eine andere Wendung genommen.

Jahrzehnte später besucht Nathan Fabre, Grosskind Marcel Fabres, das Konzentrationslager Buchenwald, den Ort und die Quelle des Bösen, wie er es empfindet. Hier entdeckt er das Foto eines Internierten. Der Mann auf dem Foto gleicht auffallend seinem Vater. Nathan stellt Nachforschungen an und stellt fest: Der Mann auf dem Bild war David Wagner und sein richtiger Grossvater.

Endlich weiss Nathan Fabre, woher die Gewalt kommt, die in ihm steckt und ihn ab und an überfällt. All die unterdrückten Schuldgefühle, Vorwürfe, das Anderssein und Gefühle des Nicht-Verstehens suchen sich einen Ausweg.

Fabrice Humberts Roman führt von Frankreich aus nach Deutschland, das heutige ebenso wie dasjenige des Dritten Reichs. Die Fäden der Geschichte bilden ein immer dichteres Gewebe. Nathan trifft auf Sophie, eine junge Deutsche, die ihn einerseits anzieht, anderseits ist sie familiär vorbelastet, was das Thema Buchenwald und SS angeht. Wo Nathans Grossvater einer der Internierten und Getöteten war, so zählt die Familie Sophies zu den Tätern. Und wo Nathan die Geschichte seines Grossvaters aufarbeiten will, findet Sophie das Thema abgearbeitet. 

Opfer, Täter – immer wieder stellt sich die Frage, wer in dieser Geschichte welchen Anteil Schuld auf sich geladen hat. Und wo oder wann man das Geschehene überwinden kann. 

Fabrice ist ein kluger, nachdenklicher, akribisch arbeitender Autor, der es weder sich noch seinen Lesern einfach macht. Gleich zu Beginn stellt er sich die Frage, ob er als Nachkomme der dritten Generation, also kein direkt Betroffener, überhaupt legitimiert sei, das Thema aufzugreifen. Die Antwort liegt in diesem Buch vor und kann nach der Lektüre nur mit Ja beantwortet werden. Fabrice bringt Geschichte, Autobiographisches und Philosophisches in Bezug zueinander. Sehr intensiv wirkt dabei auch, dass er Nathan als Ich-Erzähler funktioniert, was eine fast unheimliche Wahrhaftigkeit schafft. 

Titel: Der Ursprung der Gewalt, Roman, 365 Seiten, gebunden

Autor: Fabrice Humbert, aus dem Französischen von Claudia Marquardt

Verlag:  Elster&Salis, 2022

ISBN 978-3-906903-18-7, SFr. 32.00 / 24.– € 

Kurz zusammengefasst: Inwieweit hat das Verschweigen unliebsamer Familiengeschichten Nachwirkungen auf die nachfolgenden Generationen? Sind wir nicht alles «Direktbetroffene», wenn es um Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht? Fabrice Humberts kluger, in sachlichem Ton verfasste Roman Der Ursprung der Gewaltgeht eingehend und eindrücklich der Frage nach. 

Für wen: Alle, die eine seltsame Wut in sich spüren, sie aber nicht einordnen können

Veröffentlicht von

Jolanda Fäh

Journalistin, Autorin, Lektorin, Herausgeberin

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