Ist das jetzt Küchenphilosophie?

Sternekoch Heston Blumenthal stellt sich und uns bereits im Titel seines beim at-Verlag erschienenen Buchs schelmisch die Frage, ob das jetzt ein Kochbuch sei. Blumenthal besitzt ein Restaurant an bester Londoner Lage. Chefs seines Formats leiden selten an Selbstzweifeln, sonst wären sie kaum dahingelangt, wo sie sich befinden. Und nun stellt sich dieser Chef die Frage, ob das, was er uns vorlegt, ein Kochbuch sei! Interessant, dachte ich, und liess mir vom Verlag, der mir äusserst wohlgesonnen ist, den Titel Ist das ein Kochbuch, Abenteuer aus der Küche zusenden. 

Was habe ich erwartet? Rezepte natürlich, am liebsten etwas mit Raffinesse, ein paar Kochtipps vom Profi, die eine oder andere Geschichte aus der Küche eines Tausendsassas. Was ich nicht erwartet habe: Dass mir einer, der offenbar kochen kann, etwas von Quantengastronomie vorschwafelt in der Meinung, die Küche neu erfunden zu haben. Doch dazu später mehr.

Die Frage an mich lautet: Was suche ich in einem Kochbuch? Überraschende Rezepte, für deren Zubereitung ich nicht von Pontius zu Pilatus laufen muss, um alle Zutaten zu bekommen. Rezepte auch, die ich abändern kann. Rezepte die meinen Horizont dehnen; auch meine handwerklichen Fähigkeiten dürfen herausgefordert werden; mein Geschmack, meine Vorstellungsfähigkeit soll sich erweitern. 

Wenn ich Blumenthals kunstvoll typographisch gestaltetes Buch durchblättere, so finde ich hauptsächlich schlichte Rezepte: Sandwiches, Dips, sogar Käsenudeln tischt mir der Sternekoch auf. Nun habe ich nichts dagegen, Klassiker nach einem Sternekochrezept auszuprobieren. Aber ehrlich: Käsenudeln, Fish and Chips und Salatsaucen, Bratkartoffeln, Yorkshire Pudding, Omeletten!

Alles gut und fein, aber doch eher für Leute, die sich erstmals eine Küchenschürze umbinden und dabei von einem lernen wollen, der kochen kann. Daran ist nichts falsch. 

Pastillen und Grillen

Doch dann hält Blumenthals Buch auch Überraschendes bereit: Randenpastillen zum Beispiel, die nach Johannisbeere schmecken. Panna Cotta mit Hanf und ein Dessert aus Sherryessig. Grillen! 

Grillen gehören für mich eher in Gedichte als in Gerichte. Ich halte aus der Küche alles fern, was nach Maden und Insekten aussieht, da können sie noch so nussig schmecken. In der Hinsicht wird sich bei mir nicht mehr ändern. Wer aber gerne solche Sachen ausprobiert, findet bei Blumenthal einige Rezepte von Brühen bis Kecksen. Der Koch scheint auch ein Fan von Fermentation zu sein. Meine Experimente in dieser Richtung resultierten bis jetzt in zu salzigen Radieschen und höllischem Kimchi. Daran trifft Blumenthal nun wirklich keine Schuld. Mein Rat ist einfach: Wenn Sie in Fermentationsexperimente einsteigen, seien sie misstrauisch bei den Salz- und Chiliangaben ihrer Rezepte!

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Ist das jetzt Philosophie, ein Quantensprung oder einfach nur hochgestochenes Geplapper?

Blumenthal widmet dem Thema Raita/Tsaziki ein Kapitel seines Buchs. Ich bin ein Fan von Joghurtdips und -salaten. Kennen und lieben gelernt habe ich diese erfrischende Art der Joghurtzubereitung vor Jahrzehnten bei einer aus Persien stammenden Freundin; ich weiss aber nicht mehr, wie ihr Salat, für den sie Gurke und Pfefferminze ins verdicktes Joghurt schnippelte, auf Farsi genannt wurde. Mittlerweile stelle ich Joghurtsaucen in diversen Abwandlungen her, momentan ist mein liebster Dip einer mit Knoblauch und Estragon. Rezepte findet man zur Genüge, die erfrischenden Saucen/Salate sind von Griechenland bis weit in den Osten beliebt, und werden gerne eingesetzt, um die Schärfe einiger Gerichte abzumildern. Soweit so gut. Ich ärgere mich aber, wenn jetzt ein Sternekoch kommt, um «Raiziki» zuzubereiten und mir was von Quantenrezept erzählt.

Quantenküche? Laut Blumenthal soll das in etwa beschreiben, was in einer Küche neben den Aktivitäten, die notwendig sind, um eine Speise zuzubereiten, auch noch passiert: Düfte, die Emotionen wecken, Spass am Werken und die Lust, Zutaten so zu verändern und zu kombinieren, dass etwas Neues entsteht, Erinnerungen, die dabei auftauchen, Gedanken und Phantasien, die damit einhergehen. So neu ist daran nichts. Es ist im Gegenteil genau das, was Menschen immer noch dazu bringt, ihre Kochkünste zu erweitern.

Es wird gesagt, Blumenthal habe die Küche auf eine neues Level gehoben, er wird sogar als „bester Koch der Welt“ bezeichnet. Er hat Auszeichnungen erhalten, unter anderem ist er berechtigt, ein Wappen zu führen. Ob er diese Ehre dafür bekommen hat, was er an Küchenphilosophie so von sich gibt, ist fraglich. Unter der Bezeichnung Quantengastronomie spricht er von der Freiheit, in der Küche zu experimentieren, Rezepte mal so, mal so abzuändern, der Lust und der Laune zu vertrauen. Nun, wenn man dafür in England geehrt wird, dann sollte ich mir doch schnell mal meinen Adelstitel dort abholen, denn ich mache seit Jahrzehnten nichts anderes. Ich tue dies zusammen mit Millionen Köchinnen und Köchen: einfach so, weil es Spass macht und unendliche Möglichkeiten bietet. 

Ich habe dann bei Blumenthal doch noch etwas nachkochen wollen und mich für das Chicken Tikka Kebab entschieden. Das Hühnchen wird einen Tag lang in verdicktem, gewürztem Joghurt mariniert und kommt dann unter den Grill. Resultat: Geschmacksintensiv und wunderbar saftig. Eine bodenständige, nach Indiens Märkten duftende Mahlzeit. 

Autor: Heston Blumenthal, Illustrationen Dave McKean, Fotos Haarala Hamilton

Titel: Ist das ein Kochbuch?, Abenteuer aus der Küche

Verlag: at-Verlag, 2023, gebunden, 366 Seiten

ISBN 978-3-03902-191-8, 43.­– Euro/44.­– Franken

Kurz zusammengefasst: Neuartig, kunstvoll gestaltetes Kochbuch mit zahlreichen Grundrezepten, Basisinformationen und Tipps. Ein paar Experimente für Wagemutige sind auch dabei.

Für wen: Für Neulinge in der Küche, die es ohne lange Umwege auf Sternekücheniveau bringen wollen. (Das sollen sie ruhig mal probieren!)

Jedem seinen Speck in roter Sauce

«Der grosse Sprung nach vorn»: Was sich in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts Mao und seine Führungsriege so schön als wirtschaftliche Vorwärtsbewegung Chinas ausgemalt hatten, entpuppte sich als Fiasko, das in einer grossen Hungersnot gipfelte. 

Wei Zhang bearbeitet in ihrem Roman «Satellit über Tiananmen» das Thema des «grossen Sprungs» aus Sicht der kleinen Leute: der Stahlarbeiter, der Hausfrauen, der Landbevölkerung. 

Der Roman ist in einem Neubauquartier rund um ein grosses Stahlwerk angesiedelt. Grossmutter Guo freut sich, dass sie zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter hierherziehen kann. Sie wird sogleich zur Parteisekretärin ernannt, eine wahre Berufung für die energische Frau, die sogleich bereit ist, dem «grossen Sprung» auf die Sprünge zu helfen. Zuerst verdonnert sie die Quartierbewohner dazu, eine Strasse zu bauen. Doch damit sind noch keine Preise zu gewinnen und «kein Satellit wird über Tiananmen steigen»: Also entschliessen sich die Frauen der Siedlung, ihre im Stahlwerk arbeitenden Männer darin zu unterstützen Stahl herzustellen. Sie sind damit nicht alleine: Im ganzen Land schiessen Schmelzöfen aus dem Boden. Ganze Berghänge werden abgeholzt, um diese zu füttern. Wo kein Eisenerz vorhanden ist, werden einfach Pfannen, Nägel und Matratzenfedern in die Öfen geworfen. Kein Opfer ist zu gering, die vorgegebenen Ziele der Parteiführung zu erreichen. 

(Hier ein kurzer geschichtlicher Überblick, also keineswegs vollständig und alle Probleme umfassend: Grosse Teile der Landbevölkerung waren plötzlich in die Industrialisierung des Landes eingebunden und konnten sich nicht mehr der Produktion von Lebensmitteln widmen. Ausserdem war der in den kleinen Schmelzöfen von den Kommunen hergestellte Stahl oft von minderer Qualität; die Bauwerke, die schnell hochgezogen wurden, waren gleichfalls oft schlecht ausgeführt. Die Ziele der landwirtschaftlichen Massnahmen zur Ertragssteigerung konnten nicht annähernd erreicht werden,  was schliesslich zu einer grausamen Hungernot führte.)

Wei Zhang zeichnet ein liebevolles, wenn auch zeitweise humorvoll-groteskes Bild einer Leidensgemeinschaft, die bereit ist, mit Glauben und viel Einsatz für ein versprochenes Ideal zu kämpfen. Nur manchmal kommen Zweifel auf: Dann, wenn der Schmelzofen schon wieder ein menschliches Opfer fordert. Oder wenn die redenschwingenden Herren gar nicht mehr aufhören wollen, Reden zu schwingen. Oder wenn bei einer Fahrt ins ländliche Heimatdorf sichtbar wird, was der «grosse Sprung» an Schäden in der Landschaft hinterlässt. Oder wenn bekannt wird, dass in den Gemeinschaftskantinen plötzlich kein Speck an roter Sauce mehr zu holen ist. Dann kommt plötzlich die Frage auf, ob das mit den elefantengrossen Schweinen, die in China gezüchtet wurden, eventuell eine Mär sei. 

Wei Zhang beschreibt Menschen, die Gemeinschaftssinn gross schreiben, doch sollte der eigene Bauch dabei auch zu seinem Recht kommen. Kurz: man laviert sich durch; manchmal ist man hart wie Stahl und dann wieder weich wie Seidentofu; man schweigt, wo man schweigen muss; und man versucht mit allen Tricks ein Stück vom Glück abzubekommen. Unterdessen sieht man Menschen, selbst ganze Dörfer verschwinden und weiss: die neue kommunistische Gesellschaft erfordert Opfer. Und bis das Paradies kommt, sind alle gerade soweit unglücklich, dass es noch auszuhalten ist.

Ein Buch über Opferbereitschaft für ein Ideal, auch über Verführbarkeit und darüber, dass am Ende die kleinen Leute die Konsequenzen tragen, wenn die Führungsebene versagt. Kein Roman, welcher sich direkt auf die Probleme des heutigen China bezieht, es sei denn: siehe oben (man laviert sich durch und sieht zu, dass man etwas von der Speckseite für sich beiseiteschafft. Man glaubt «denen da oben», weil man etwas glauben will. Und bis alles besser wird, ist man gerade soweit unglücklich, dass es noch auszuhalten ist.)

Autorin: Wei Zhang

Titel: Satellit über Tiananmen, Roman

Verlag: Elster und Salis, 2022, gebunden, 379 Seiten

ISBN 978-3-03930-026-6, 24.­– Euro/32.­– Franken

Kurz zusammengefasst: Ende der 50Jahre in China. Der Geruch von Schweinespeck in roter Sauce zieht durch die Strassen, die Verheissungen einer neuen Gesellschaft hängen in der Luft. In Grossmutter Guos «Harmoniedorf», einem Quartier im Umfeld einer grossen Stahlfabrik, wird eifrig und voller Naivität «am grossen Sprung nach vorn» gearbeitet. Doch irgendwie will nichts klappen.

Für wen: Es kann keinem schaden, sich mit China und seinen Traumata auseinanderzusetzen.

Kauen am Seil zwischen den Zähnen

Frei von Lea Ypi: Wieder einmal ein Buch, das ich von ganzem Herzen empfehlen kann. 

Nein, ein Roman ist es nicht, auch wenn es sich fast wie einer liest, so spannend und erstaunlich, so fremd und aus einer ungewohnten Optik. Zumal für eine Westeuropäerin wie mich, die von Albanien bis zum heutigen Tag an ein Land gedacht hat, das Jahrzehnte bis zum Tod von Enver Hoxhas vollkommen abgeschottet war und seit dem Fall des eisernen Vorhangs vor sich hindümpelt. Albaner, das waren Menschen, die aus ihrem Land abgehauen waren. Manchen galt Albaner als Schimpfwort. Ja, und dann ist da noch dieser Doppeladler (Flagge Albaniens), der gelegentlich in Fussballspielen auftaucht und für Ärger sorgt. Da war aber auch die Familie, Flüchtlinge, die, nachdem sie viele Jahre mit uns im Dorf gelebt hatte, eines Tages abgeschoben wurde. Wir waren – unsere Kinder gingen mit deren Buben zu Schule – ebenso entsetzt wie machtlos. Wir wussten: In Albanien erwartete sie das wirtschaftliche Nichts. Aber sonst!?

Schande über mich … wobei zu meiner Verteidigung zu sagen wäre, dass in den 90ern der Balkan mit all seinen Ethnien und ihren Ansprüchen, den Bombardierungen und Gräueln sehr viel Aufmerksamkeit beanspruchte. Da kann so ein kleines Land wie Albanien schon mal aus dem Fokus geraten.

Nun, welch ein Glück, dass mich Lea Ypis Buch erreicht hat und mich staunen lässt, was mir so alles entgangen ist. Doch nicht nur das. Es geht nicht nur um die Geschichte eines Landes, Erinnerungen an den Zusammenbruch eines Systems und das nachfolgende Vakuum, sondern vielmehr um die Menschen: ihre Widerstandskraft, ihr Verhältnis zum den politischen Gegebenheiten und zur inneren und äusseren Freiheit. Ein überaus kluges Buch, das noch lange zu denken gibt. Hier ein Auszug:

Dass die Partei sich auf diese Weise auflösen und vervielfältigen, dass sie als die Krankheit und das Heilmittel zugleich gelten konnte, als die Wurzel alles Bösen und die Quelle aller Hoffnung, verlieh ihr etwas Mythisches, das noch Jahr später als der Grund unseres Unglücks angesehen wurde, als ein dunkler Schatten, der Freiheit wie Tyrannei aussehen liess und Notwendigkeit als Ereignis einer Wahl. Sich von ihrer allgegenwärtigen Präsenz zu befreien, fühlte sich an, wie auf einem Seil herumzukauen, das man gerade zwischen seinen Zähnen entdeckt hat. 

Lea Ypis Buch ist ein Buch der Erinnerungen an die 90er und zur Frage, was denn eigentlich Freiheit ist: Sie erinnert sich an die Tage, als erste Proteste in Tirana gegen das Regime von Hoxha und die Partei laut wurden. An die sprachlichen innerfamiliären Regelungen, wenn es um Menschen ging, die wegen ihrer «Biographie» im Gefängnis sassen. An die systematische Gehirnwäsche, der die Kinder ausgesetzt waren und die Ausweichmanöver der Familie, wenn die Begeisterung der kleinen Lea für Sozialismus, Stalin und Konsorten allzu nervig war oder komische oder gar gefährliche Züge annahm. Besonders intensiv und eindringlich fand ich die Tagebucheinträge der 18jährigen Lea aus dem Jahr 1997, als Albanien im Bürgerkrieg stand und viele Menschen ihre Ersparnisse an Pyramidenfirmen verloren hatten. Es gäbe noch vieles aus diesem Buch herauszupicken: Ich empfehle, es selber zu lesen, und vielleicht noch einmal zu lesen, und noch einmal. Es gibt einiges daraus zu lernen, auch weshalb wir so glauben und denken wie wir glauben und denken.

Autorin: Lea Ypi

Titel: Lea Ypi, Frei, Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Suhrkamp Verlag, 2022, gebunden, 333 Seiten

ISBN 978-3-518-303-47, 28 Euro/42.90 Franken

Kurz zusammengefasst: 90er-Jahre in Albanien. Lea – bis anhin gefüttert mit sozialistischen Slogans und geprägt von einer kindlichen Liebe für Enver Hoxha – erlebt den Zusammenbruch des rigiden sozialistischen Regimes und wächst hinein in eine wirre Zeit, geprägt von wirtschaftlichem Notstand, kriminellen Machenschaften, Hoffnungen, schwierigen Reformen, Bürgerkrieg, Fluchtgeschichten. Über allem die Frage: Wie lebt, interpretiert und erlebt der Mensch Freiheit.

Für wen: Ausnahmslos alle.

Vom kleinen Glück und vom grossen Scheitern

Lukas Hartmann stellt in seinem Roman «Ins Unbekannte» zwei Menschen gegenüber, die nichts verbindet, ausser die Zeit, in der sie lebten, und ein unzähmbarer Hang zur Leidenschaft. 

Zum Inhalt: Das 19. Jahrhundert ist am Ausklingen, das 20igste steht mit all seinen noch unbekannten Turbulenzen vor der Tür und ruft danach, gestaltet zu werden. Fritz Platten, ein Ostschweizer, ist hellauf begeistert von sozialistischen und kommunistischen Bestrebungen. Platten verschlägt es erst in die Schweizer Politik und schliesslich samt Familie nach Russland. Insbesondere Lenin hat es ihm angetan; ihm hilft er zur Rückkehr nach Russland; er rettet ihm sogar einmal das Leben. 

Genau in die Gegenrichtung reist Sabina Spielrein. Sie wird als noch sehr junge Frau im Burghölzli von Carl Gustav Jung wegen ihrer sognannten Hysterie behandelt und landet prompt in einer leidenschaftlichen und problematischen Beziehung mit Jung. Nach ihrer Heilung studiert sie Medizin und wird anerkannte Psychoanalytikerin. Später kehrt sie nach Rostow zurück. Ihr Mann ist ebenfalls Arzt. Die Psychoanalyse wird in der Sowjetrepublik aber zur unsowjetischen Sache erklärt, Spielrein darf immerhin als Ärztin praktizieren. 

Sowohl Spielrein als auch Platten ­– deren Lebenswege sich wohl höchstens «auf Luftlinie» kreuzten, auch wenn Lukas Hartmann so etwas wie eine flüchtige Begegnung in den Roman hineindichtet – ist ein hartes Ende beschieden. Spielrein wird als Jüdin während der deutschen Besatzung Rostows im 2. Weltkrieg im Verlauf von «Säuberungen» getötet; Platten wird wie viele andere in Sibirien inhaftiert, zu harter Fron gezwungen, und ­– all seiner Träume und Hoffnungen beraubt ­– gleichfalls erschossen. 

Die Jahrzehnte rund um die Jahrhundertwende haben mich schon oft beschäftigt. Ich bringe einfach alles was damals an Nationalismus, an Befreiungsideen, an Utopien, Machtverschiebungen, Kriegstreibereien, Krisen, Nach-mir-die-Sintflut-Festivitäten, Drogenkonsum, Aufbrechen von Konventionen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, technischen Errungenschaften, mitsamt starkem Einfluss auf Kunst und Literatur nicht zusammen (und wenn ich die Stichworte jetzt so lese, kommt mir auch der naheliegende Gedanke, es gelte derzeit genauso viel Wirrnis wie dannzumal.) 

Kurz: Es fällt mir schwer, mir ein Leben zu jener Zeit vorzustellen, weder in der Bourgoisie, zu der Spielrein zu zählen ist, noch in der Arbeiterklasse eines Fritz Platten. Und nun pickt Lukas Hartmann diese zwei gegensätzlichen Menschen aus jener Zeit aus der Masse heraus, hantiert mit Fakten, Ideen und Phantasie, setzt sich in die Köpfe der beiden und versucht genau das: eine wirre Welt und ihre Menschen zu erfassen, Zeitsplitter zusammenzufügen, die kaum zusammenzufügen sind. Auch im Vergleich der beiden Lebenswege bleibt am Ende nur das Fazit: Was für eine verrückte Zeit! Was für Herausforderungen! Was für ein Wille, das Leben selbst und frei zu gestalten! Und welche Möglichkeiten, in die Irre zu laufen!

Wunderbar gewählt, der Titel des Buches, vereint er doch sämtliche Aspekte, die im Buch vorkommen: Das Neue, das Fremde, das Ungewisse, das Geheimnisvolle.

Autor: Lukas Hartmann

Titel: Ins Unbekannte, Die Geschichte von Sabina und Fritz, Roman,

Verlag Diogenes, 2022, gebunden, 282 Seiten

ISBN 978-3-257-07205-1, 25.­– Euro/32.­– Franken

Kurz zusammengefasst: Sabina Spielrein kommt als 19jährige aus Rostow in die Schweiz, um sich im Burghölzli bei Carl Gustav Jung wegen ihrer «Hysterie» behandeln zu lassen. Nach erfolgreicher Behandlung studiert sie Medizin in der Schweiz und beschäftigt sich intensiv mit Psychoanalyse. Der Ostschweizer Fritz Platten war einer der Anführer des Landesstreiks von 1918. Er lässt sich von Lenins Ideen von der Umgestaltung der Gesellschaft begeistern und emigriert mitsamt seiner Familie nach Russland. Zwei Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten, verknüpft einzig durch die Zeit (Sabina Spielrein wurde 1885 geboren, Fritz Platten 1883), ihre Irrungen und Wirrungen. Beiden war ein gewaltsames Ende beschieden.

Für wen: Jene, für die Geschichte nicht das Grosse Ganze, sondern das Glück und Scheitern des Einzelnen bedeutet.

Weiblich, unerfüllt, traurig sucht etwas zum Festhalten

Faszination, aber auch Bedrohung: Das ist, was Michèle Akli im Roman Erfüllung von Nina Bouraoui tagtäglich wahrnimmt. Es ist nicht ganz klar, weshalb ausgerechnet Erfüllung der Titel dieses Buches ist, denn was Michèle am meisten fehlt, ist eben gerade etwas, das sie beschäftigt und erfüllt. Es sind konkrete, aber auch eingebildete Ängste, die Michèle umtreiben. Die politische Situation Algeriens ist schwierig, Michèle fühlt sich als Französin besonders ausgeliefert. Tatsächlich passieren verunsichernde Dinge rund um ihre Villa in einem gediegenen Vorort von Algier. Auch als Frau fühlt sich Michèle bedroht, wenn sie in den Strassen von Algier unterwegs ist. Sie verschanzt sich gerne in ihrem Haus, kocht für ihren Sohn Erwan, den sie ganz für sich haben möchte. Doch Erwan findet eine Freundin, welche sich Bruce nennt, ein Mädchen zwar, doch von ihrem Gehabe her vielmehr ein Junge. Misstrauisch und mit wachsender Besorgnis beobachtet Michèle diesen eigenwilligen Eindringling in ihre Welt. Sie will, nein, sie muss ihren Jungen vor Bruce schützen und entschliesst sich, sich mit Bruces Mutter Catherine, einer extravaganten Schönheit, anzufreunden. Doch diese Freundschaft stellt ihre Welt noch mehr in Frage und auf den Kopf.

Von der ersten bis zur letzten Seite ein Roman, der von wachsender Beunruhigung spricht, von Melancholie, die einen Menschen aufzufressen droht. Alles wird rund um Michèle zu einer Art von Terror: die Landschaft, die Menschen. Verrat sitzt an jeder Ecke. 

Michèle weiss, dass einige ihrer Ängste unbegründet sind; dieses  Wissen hilft ihr wenig, um sich zu beruhigen, greift sie regelmässig zum Weinglas. Ihre Ehe mit Brahim wird mehr und mehr zur Farce. Michèles gesamte übrigbleibende Energie richtet sich auf Erwan; sie möchte immerhin eine gute Mutter sein, wenn es ihr schon nicht gelingt, eine gute Ehefrau zu sein. In ihrer quälenden Selbstbeobachtung kommt sie jedoch zum Schluss, dass ihre Obsessionen nicht gut für ihr Kind sind:

Denn ich vererbe ihm auch meine Angst, verschüttet zu werden, meine quälenden Gedanken an eine Welle, die nach einem Erdbeben die Stadt überflutet. Schönheit ist für mich direkt mit Tod verbunden, ich kann nicht anders. Ich bin krank, krank vor Melancholie, und wenn ich ehrlich bin, müsste ich mich eigentlich über Bruces Erscheinen in Erwans Universum freuen.

Michèles Frustrationen suchen sich einen nach aussen gerichteten Weg. Gegen wen sich ihre negative Energie schliesslich richtet und welch tückische Umwege sie nimmt, sei hier nicht verraten. Immerhin soviel: In der Art und Weise ihres Handelns und wie sie zu ihrem Leben steht, wirkt Michèle sehr unemanzipiert. (Ihr Gegenstück ist Bruces Mutter Catherine). Ein Glück, dass sich seit den Siebzigern im Selbstverständnis der Frauen etwas geändert hat. Ich vermute, dass jüngeren Leserinnen Michèle eher befremdlich rüberkommt.

Autorin: Nina Bouraoui

Titel: Erfüllung, Roman, aus dem Französischen von Nathalie Rouanet

Verlag: Elster-Verlag, 2022, gebunden, 226 Seiten

ISBN 978-3-906903-19-4, 34.­– Euro/37.­– Franken

Kurz zusammengefasst: Siebzierjahre in Algerien: die Französin Michèle ist ihrem algerischen Mann nach Algier gefolgt. Mit Gartenarbeit, Schreiben, Alkohol und Sex versucht sie, ihre Langeweile und ihre Depression in den Griff zu bekommen. Ihr Sohn Erwan freundet sich mit dem wilden Mädchen Bruce an. Fasziniert und mit wachsender Wut und Eifersucht beobachtet Michèle Bruce und deren Mutter Catherine. Ein Roman, der ebenso verstörend wie in der Sprache poetisch und kraftvoll-knapp ist. 

Für wen: Politisch, gesellschaftlich, geschichtlich Interessierte, aber eher nichts für Depressionsgefährdete.

«Niemand weint, wenn eine Strasse stirbt»

Wer Linden Hills von Gloria Naylor gelesen hat oder noch vorhat zu lesen, sollte sich unbedingt als Ergänzung auch Die Frauen von Brewster Place von derselben Autorin zu Gemüte führen.

Wenn die Menschen von Linden Hills so tun, als wären sie auf dem Weg zur Glückseligkeit, so wissen jene von Brewster Place genau, wo sie leben: in einer Vorhölle.

Brewster Place sind ein paar Wohnblocks, errichtet von einer korrupten Stadtbehörde «um die seitens der irischen Bevölkerung zu erwartenden Proteste anlässlich der Entlassung des Polizeichefs abzuschwächen». Seit seiner Entstehung hat Brewster Place einen kontinuierlichen Abstieg erlebt. Die europäischen Zuwanderer sind längst weggezogen und haben jenen Afroamerikanern Platz gemacht, die sprich- und wortwörtlich in einer Sackgasse gelandet sind. Der Verfall des Quartiers ist offensichtlich, Brewster Place ist angezählt. Da täuschen auch nicht die tapferen farbigen Töchter drüber hinweg, die sich mit muskatfarbenen Amen auf Fenstersimse stützen, nicht ihre knorrigen Ebenholzbeine, die die Last ihrer Einkäufe die Treppen hochtragen oder ihre safranfarbenen Hände, die feuchte Wäsche in Hinterhöfen aufhängen. Mit diesem wachen, einfühlsamen Blick schaut die Autorin auf die Protagonistinnen ihres Romans: sieben Frauen, von denen jede eine Bürde zu tragen hat. Da ist zum Beispiel Cora Lee, die so gerne Babys hat, dass sie sich immerzu schwängern lässt. Da sind Lorraine und Theresa, die sich lieben, denen diese Liebe aber von den Nachbarn, den männlichen ebenso wie den weiblichen, unnötig schwer gemacht wird. Oder Kiswana, die an Black Power glaubt und Druck auf die Vermieter der baufälligen Wohnungen machen möchte – doch dafür müssten die Bewohner von Brewster Place zusammenstehen. Oder Mattie, die ihren Sohn Basil zu lange in Watte gepackt hatte und jetzt die Konsequenzen tragen muss. 

Als ob die feindselige Umgebung nicht schon Probleme genug mit sich brächte, kämpft jede der Frauen auch im privaten Bereich so gut sie es eben vermag. Doch manchmal helfen sie einander, manchmal teilen sie ihren Kummer. Und (fast) immer ist da auch ein Quentchen Hoffnung.

Es ist dieser Roman ein Abgesang auf eine Strasse und ein wundersam klingender Hoffnungssong für ihre Bewohnerinnen:

«Doch die farbigen Töchter Brewsters, über die Leinwand der Zeit verstreut, wachen immer noch gähnend auf und nehmen ihre Träume mit in den Tag. Sie stehen auf und klammern sie mit der feuchten Wäsche zusammen, die sie zum Trocknen hinaushängen, sie werfen sie zusammen mit einer Prise Salz in ihre Suppentöpfe, und sie wickeln ihre Babys mit ihren Träumen. Sie kommen und gehen, kommen und gehen, aber verloren gehen sie nie. Und so wartet Brewster noch immer auf den Tod.»

Dieser Roman, im Original aus den Achtzigerjahren, nun im Unionsverlag neu auf Deutsch aufgelegt, ist ein feinnerviger Gesang auf die Hoffnung, dessen poetische Bilder und lyrischen Sätze noch lange nachklingen.

Titel: Die Frauen von Brewster Place, RomanTaschenbuch, 248 Seiten

Autorin: Gloria Naylor 

Verlag: Unionsverlag 2022, http://www.unionsverlag.com

ISBN 978-3-293-209503, Fr. 21.90/Euro 14.00

Kurzbeschrieb/-bewertung: Eine heruntergekommene Strasse, bewohnt von Afroamerikanern. Auf der Strasse ist es nicht sicher, in den Wohnungen rostet und schimmelt es, der Putz fällt herunter. Der Roman holt beispielhaft sieben Frauenschicksale ins Licht. Als Leser darf man über die Kraft und Fürsorge dieser Damen staunen. Eine Leseempfehlung ohne Wenn und Aber von mir.

Für wen: AbrissbirnenbetreiberInnen und BruchbudenvermieterInnen, die ihren Beruf wechseln wollen oder ihr Gewissen aktivieren sollten. Alle anderen MenschenInnen auch.

Koffer gepackt, Koffer ausgepackt

Gelegentlich erreichen mich Bücher Freundinnen, die nicht nur Freundinnen sind, sondern eben auch Autorinnen. Aus journalistischer Sicht ist es natürlich etwas zweifelhaft, solche «befreundeten» Bücher zu besprechen, wegen der sogenannten und vielzitierten Objektivität. Nur gut, ist dies hier ein Blog, wo eben Subjektivität ausdrücklich erwünscht ist. Und deshalb sei es mir hier erlaubt, hier die neuen Bücher von Gisela Salge und Barbara Traber vorzustellen.

Land der glücklichen Hühner 

lautet der Titel des soeben herausgekommenen neuesten Buches von Barbara Traber. Das Land der glücklichen Hühner liegt nach Trabers Erfahrungen in der Bresse, eine Gegend im Osten Frankreichs zwischen Saône und Doubs. Hier hatte die Familie Traber lange Jahre einen Zweitwohnsitz in einem kleinen Dorf. Wer sich ein Ferienhaus in einem anderen Land mit anderer Sprache kauft, hat meist ganz eigene Vorstellungen davon, was er dort alles erleben möchte und was ihn erwartet. Ein eigenes Paradies, ein Refugium, unverdorbene Menschen in einer ebensolchen Landschaft, ein neues Lebensgefühl, Freundschaften, phantastisches Essen, Inspiration für den Alltag, neue Sprachkompetenzen und dergleichen mehr. Jedenfalls sind die Erwartungen hoch. Manche dieser Träume erfüllen sind, die meisten passen sich nach und nach an die Gegebenheiten an oder weichen einer Enttäuschung. Kommt dazu, dass überall wo es schön ist, auch andere Glückssucher eintreffen. Die heile Welt verändert sich, bekommt Risse. Barbara Traber schaut mit Wehmut und einer Prise Humor zurück auf diese Ecke Frankreichs. Und mit Verständnis und viel Herzenswäre auf jene Menschen, denen sie dort begegnet ist. Viele davon sind «gegangen»: manche Richtung Friedhof, manche anderswohin. Die Dorfbeiz Au bon coin wurde saniert, sprich verschlimmbessert. Die täglichen Wirtshausbesucher haben eine andere Anlaufstelle suchen müssen. Auch die Familie Traber hat ihr Haus neben dem Bon coin wieder verkauft. Man kann aber davon ausgehen, dass die Hühner in der Bresse immer noch ein glückliches Leben führen.

Ferienhauseigner finden hier den Text, den sie schon lange schreiben wollten; Erstwohnsitzer können ihre romantischen Vorstellungen vom «Zweitwohnsitzen» auf ein gesundes Niveau runterholen und werden dabei bestens unterhalten.

Erhältlich im Neptun Verlag, www.neptunverlag.ch, ISBN 978-3-85820-333-5

Geschichten aus dem Überseekoffer

heisst das Buch, das Gisela Salge dieser Tage vorgestellt hat. Auch bei Gisela Salge geht es um Erinnerungen.  Geschichten, die sich um die Geschicke einer Kaufmannsfamilie im Norden Deutschlands drehen. Da ist dieses grosse, etwas heruntergekommene Haus namens Weltevreden, wo früher die Familie ein- und ausging. Jetzt ist das Haus mit Blick auf den Fluss heruntergekommen und verlassen, doch die alten Balken, Räume, der Dachboden flüstern die Namen derer, die kamen und gingen. Vier Generationen zogen von hier aus in die Welt – oder schafften es zumindest bis zum Marktplatz. Gisela Salge schaut hinein in ihren fiktiven Überseekoffer, der vermutlich genauso aussieht, wie es damals, als sie ein Kind war, die Überseekoffer auf dem Dachboden ihres Elternhauses taten. Aus den Tiefen dieses Koffers hervor zieht sie ihre Geschichten über eine weitläufige, bunte Verwandtschaft. Menschen, die ihre Geheimnisse haben, Leidenschaften, unglücklichen Schicksale. Beispielsweise Bernhard, der lieber Gedichte schreibt und sich betrinkt, statt sich mit Importen und Exporten herumzuschlagen. Oder Mina, die mit einem Dirigenten bis nach Russland davonläuft. 

Erhältlich bei edition pro lyrica, ISBN 978-3-907551-78-3

33 Shades of Süssgebäck

Es gibt in meinem Kochbuchgestell ein Buch, das genau so aussieht, wie nur heissgeliebte Kochbücher aussehen können: Judith Erdins Dein bestes Brot. Zu diesem Kochbuchhit hat der at-Verlag nun einen neuen Band dazugestellt, von dem ich befürchte, dass er in Kürze klebrig, fleckig und verklebt daherkommen wird: Dein bestes Süssgebäck von derselben Autorin. 

Das System ist dasselbe wie beim Brotbackbuch. Eine Teigsorte – mehrere Varianten. Wichtig dabei: Teig und Füllung werden selbst hergestellt. Erdin hält wie ich wenig von Fertigfabrikaten. Das gilt auch für Blätterteig oder Strudelteig. Und wer gerade vor Schreck zusammengezuckt ist, sollte sich schnell wieder fassen. So ein Blätterteig ist keine Hexerei. Das einzige, was es braucht, ist ein wenig Zeitplanung. Das Ergebnis lohnt sich auf jeden Fall. Die Mandelgipfel, die ich mit selbst gemachtem Blätterteig fabriziert hatte, sind auf jeden Fall im Hui unter Ahs und Ohs verschwunden und auch der Zwetschgenstrudel, den ich gestern unseren „Testessern“ serviert habe, hat allen köstlich gemundet. Die Rosinenbrötchen, die überraschenderweise mit etwas Mazipanmasse verfeinert werden, gehören zur Zeit zu meinem liebsten Sonntags-Frühstücksgebäck. Ich habe sie ­– ich war so frei, das Rezept der Autorin abzuändern – mit selbst gemachtem Orangeat ergänzt. Grossartig!

An Judith Erdins Backbüchern finde ich immer den von Bildern unterstützten Theorieteil besonders spannend. Es ist für Laien hilfreich zu sehen, wie gelernte Bäcker vorgehen, sei es beim Ausziehen eines Strudelteiges oder beim Formen diverser wunderschöner Gebäckteile, wie zum Beispiel eines Franzbrötchens. Zusätzlich hat Erdin in diesem Backbuch immer eine simple vegane Abänderung für alle 33 vorgestellten Rezepte, was das Backbuch auch für eingeschworene Veganer attraktiv macht. 

Autorin: Judith Erdin

Titel: Dein bestes Süssgebäck, klassisch und vegan

Verlag: at-Verlag, 2022, gebunden, 223 Seiten

ISBN 978-3-03902-156-7, 34.­– Euro/37.­– Franken

Kurz zusammengefasst: Süsse Verführung in 33 Variationen. Plunder-, Hefe-, Strudel, Blätter-, Berliner- und Donutteiggebäcke zum Niederknien. Und ebenso gut oder besser als vom Bäcker.

Für wen: Dieses Buch sollte man verschenken und sich dann des öfteren bei der oder dem Beschenkten einladen lassen. Selber backen macht aber definitiv auch Spass!

Ein Alptraum, getarnt als Erfolg

In einem meiner letzten Blogbeiträge habe ich mich darüber ereifert, dass Literatur mehr sein muss als Gejammere, selbst wenn es dabei um hochsensible Themen wie Rassenhass und Frauendiskriminierung geht. Ich habe versprochen, diesmal ein Buch vorzustellen, das das Thema effektiver, phantasie- und liebevoller und damit wirksamer angeht. Ich spreche von Gloria Naylors Roman Linden Hills. Ein beherztes Buch aus dem Herzen einer afro-amerikanischen Gesellschaft, die sich mit der eigenen Identität ebenso wie mit den Gegebenheiten schwertut: Soll man sich den sozialen Gegebenheiten zum Trotz anstrengen, damit man es zu «etwas bringt» und sich damit an die von Weissen diktierten Normen anpassen? Oder ist es wichtiger, niemals aus dem Blick zu verlieren, woher man kommt und was die Vorfahren durchgemacht haben? Lassen sich beide Aspekte vereinen, oder bedeutet dies bereits, sich zu verbiegen oder sich gar zu verbeugen? 

Das Setting: Linden Hills, ein Hügel mitten in einer amerikanischen Stadt, bewohnt von Schwarzen. Es ist kein besonders schöner Hügel, noch nicht mal fruchtbar. An seinem Fuss liegt ein Friedhof. Gleich hinter dem Friedhof wohnt der Besitzer des Landes, der schlaue Luther Nedeed. Nedeed, der König dieses Stück Landes, das wie ein schwarzer Dorn im Fleisch einer weissen Stadt liegt, hat für die meisten seiner Brüder nicht viel mehr als Verachtung übrig:

Etliche dieser Narren hatten in dem Glauben Wurzeln geschlagen, Afrika könnte mehr als ein Wort sein; die Sklaverei sei überwunden, Erlösung liege in Jesus und Heil im Blues. Sicher Nedeed könnte ihnen sagen, dass man echten Fortschritt in weissen Grossbuchstaben schrieb … Nein, Menschen wie sie blickten ein Jahrtausend zurück, und könnten sie ein Jahrtausend in Linden Hills hocken, würden sie Kinder produzieren, deren Traum eine echte Schwarze Macht wäre…

Gloria Naylor hat Nedeed in diesem gleichnishaft aufgestellten Stück die Rolle des teuflischen Verführers zugedacht. Wenn anderswo gilt, dass derjenige, der zuoberst auf einem Hügel wohnt, die beste Wohnlage hat, so ist das in Linden Hills genau umgekehrt: Je weiter unten am Hügel, je näher an Nedeed und am Friedhof einer wohnen darf, umso eher zeigt das seinen Erfolg. Und wer wo wohnen darf, entscheidet Luther Nedeed.

Allein an dieser schriftstellerisch genialen Idee kann man schon erkennen, dass Naylor gerne mal die Dinge auf den Kopf stellt und dann wacker daran schüttelt. Und so fallen dann bei Schütteln nicht nur Erfolg und Geld, sondern auch andere, unschöne Dinge zu Boden. Alles hat seinen Preis, auch auf Linden Hills, und selbst der Teufel ist nicht mehr als ein gefallener Engel.

Die Story: Willie und Lester sind zwei junge Existenzen, von denen noch nicht sicher ist, ob sie es eines Tages schaffen werden. Bislang sieht es eher nach einem Scheitern aus, nicht zuletzt, weil sie vom Erfolgsstreben und dem American Dream wenig halten. Doch nun steht Weihnachten vor der Tür, die beiden bräuchten dringend Geld. Da kommt die Idee, sich auf Linden Hills ein paar Jobs bei den reichen Nachbarn zu suchen, gerade recht. Willie und Lester arbeiten sich nach unten: von den einfacheren Quartieren oben auf Linden Hills hinunter zu den Luxushäusern. Je weiter nach unten sie kommen, umso unheimlicheren Dingen begegnen sie. Verzweiflung nimmt Gestalt an. Träume zerschmettern auf dem Boden von Swimmingpools. Zuletzt landen die beiden Freunde im Haus von Luther. Luther hat ihnen gutes Geld geboten, wenn sie ihm helfen, seinen Christbaum zu schmücken. 

Ein Roman, der mich von Grund auf überzeugt hat. Sprachlich poetisch, trotzdem eine Wucht, mit einem gelungenen Aufbau, Spannung inbegriffen, überzeugende Charaktere, atmosphärische Dichte: so stelle ich mir gute Literatur vor. Das Buch erschien zwar bereits 1985 im Original, hat aber nichts von seiner Aktualität verloren. 

Autorin: Gloria Naylor

Titel: Linden Hills, Roman, erstmals ins Deutsche übersetzt von Angelika Kaps

Verlag: Unionsverlag, 2022, gebunden, 394 Seiten

ISBN 978-3-293-00585-3, 23.­– Euro/236.90 Franken

Kurz zusammengefasst: Auf Linden Hills wohnen Schwarze, die es auf der Karriereleiter geschafft haben. Auch wenn die Häuser und Einfahrten von Erfolg sprechen, so sieht es hinter den Fassaden anders aus. Auf dem anstrengenden Weg den Hügel abwärts haben manche den Bezug zu ihrer Geschichte und sich selber verloren.

Für wen: Thematisch geht es um Rasse, Geschlecht, Sexualität: Kann ich einfach allen empfehlen.

Se non è vero, è ben trovato

Es gibt sie also noch: Bücher, die einem so richtig mit sich nehmen, so dass man seine Augen gar nicht mehr von den Seiten losreissen möchte. Der Roman Sein Sohn von Charles Lewinsky hatte auf mich jedenfalls diese Wirkung: eine Geschichte voller spannender, witziger, intelligenter Figuren; eine Handlung, basierend auf wenigen geschichtlich verbürgten Tatsachen, ausgeschmückt so bunt und abwechslungsreich, dass es eine wahre Freude ist, eine Fabulierkunst, auf die man neidisch werden könnte, und dazu jede Menge Lebensgefühl des 19. Jahrhunderts. Romantische Schäferszenen oder Szenen hinter Biedermeier-Vorhängen sind nicht zu erwarten. Dafür eignet sich weder Lewinskys nüchterner Ton, noch würden die Figuren und die Szenerien, in denen sie sich bewegen, dazu passen. Man sollte wohl eher in Richtung Realismus denken – und das nicht zu knapp.

Worum geht es?

Über seine Herkunft weiss der elternlose Louis Chabos, grob. 1794, nichts. Im Waisenhaus, in welchem er aufwächst, ist er einer der Schwächsten. Sein französischer Name ist auch nicht gerade hilfreich. Seine unkomfortable Lage ändert sich etwas, als er mit zwölf «kein Kind mehr» ist und von einem Marchese als Diener ausgebildet wird. Denn hier lernt er, wie man sich in einer grausamen Welt behauptet. Louis Lehrzeit nimmt ein abruptes Ende, er stromert durch die Gegend, kommt ins Gefängnis, weil er einen Apfel gestohlen hat und zieht schliesslich mit Napoleons Armee gegen Russland. Den Feldzug überlebt er wundersamerweise, allerdings mit einer halben Hand weniger. Louis macht sich nun auf die Suche nach seinen Eltern und kommt so nach Reichenau und in die Bündner Herrschaft. Seine Mutter findet er in einer Einrichtung für Geisteskranke. Der einzige Mensch, der ihm jetzt noch sagen könnte, wer sein Vater ist, schweigt. Nach Jahren hat Louis einen Platz in Zizers gefunden, er hat eine Familie, ein gutes Auskommen. Doch die Suche nach seinem Vater lässt ihm keine Ruhe. In den Schriften seines Gönners findet er die Antwort, die er sucht: Sein Vater ist der König der Franzosen, Louis-Phillippe. Louis macht sich umgehend auf den Weg nach Paris. 

Louis, die Hauptfigur, bewegt sich als Habenichts unter den einfacheren Menschen. Sie wissen: Das Leben und die Mitmenschen sind ungnädig. Fast jeder hat damit zu tun, sich über Wasser zu halten. Die Lebensweisheiten sind dementsprechend, es ist wenig Platz für Mitgefühl. So sagt beispielsweise der Sergent, bei dem Louis seine Armeeausbildung erhält:

«Beim Zirkus geht man über das hohe Seil und kommt auf der anderen Seite an. Oder man verliert das Gleichgewicht und ist tot. Entweder oder. Etwas Drittes gibt es nicht. Applaus oder Totenmesse. Der Zuschauern ist es egal. Sensation ist Sensation. Dafür sind sie gekommen. Auf dem Schlachtfeld bekommt ihr keinen Applaus. Da ist es besser, ihr sterbt hier vor Erschöpfung.»

Doch nicht nur vom Sergent lernt Louis, dass die Welt ein Zirkus ist. Sein erster Lehrmeister, der Marchese, hat ihm folgendes beigebracht:

«Wenn du einen König beeindrucken willst, verneig dich weniger tief als die anderen. Merk dir das. Von denen mit der Nase am Boden kennt er genug.»

Louis ist gelehrig. Die Merksätze seiner Lehrmeister bleiben ihm im Kopf. Doch keiner von ihnen hat ihm beigebracht, was man mit einer Leerstelle, hinterlassen von Eltern, die nichts von ihm wissen wollten und die ihn in einem Waisenhaus abgegeben haben, anfangen soll. Und so ist Louis getrieben von der Frage, was das wohl für Eltern sein müssen. Für die Antwort auf sein Suchen verlässt er sogar seinen sicheren Familienhafen in Zizers. Anstelle eines königlichen Vaters, der ihn mit offenen Armen empfängt, wartet in Paris weit Unangenehmeres auf den Suchenden. 

Autor: Charles Lewinsky

Titel: Sein Sohn, Roman

Verlag: Diogenes, 2022, gebunden, 368 Seiten

ISBN 978-3-257-07210-5, 25.­– Euro/28.20 Franken

Kurz zusammengefasst: Temporeich, farbenfroh, klug und mit beiden Füssen lebensnah im 19. Jahrhundert: Dieser Roman lässt kaum einen Wunsch offen. Das Waisenkind Louis kommt auf derabenteuerlichen Suche nach seinem royalen Vater über Mailand, Russland, die Schweiz bis nach Paris. Manche Figuren im Roman gab es tatsächlich, die Romanhandlung: Se non è vero, è ben trovato. 

Für wen: Wunderbare Unterhaltung mit Tiefgang, ist wüsste keinen, dem das nicht gefallen würde.