Dem Gras beim Wachsen zusehen

Der Zürcher Rotpunktverlag befindet sich derzeit in einer Notlage und ruft um Hilfe. Höchste Zeit also, wieder einmal etwas Werbung zu machen für diesen engagiert geführten Kleinverlag. Gut, dass mir gerade ein Buch zugesteckt wurde, das ich vollumfänglich empfehlen kann: Tamangur von Leta Semadeni. Die Autorin hat mittlerweile den Verlag gewechselt, Tamangur ist aber bei Rotpunkt erschienen und auch dort erhältlich.

Ein Kind wächst bei seiner Grossmutter in einem Engadiner Bergdorf auf. Die Grossmutter ist ein Freigeist. Für sie ist das Dorf zu klein. Also macht sie Gedankenausflüge. Oder sie träumt. Vom Grossvater manchmal, der sich davongemacht hat nach Tamangur. Eigentlich ist Tamangur ein grosser Engadiner Arvenwald, in diesem Roman steht der Name aber für das Jenseits. Der Grossvater war Jäger, also steift sein Geist jetzt zwischen der Arven herum. Einst wird die Grossmutter sich zu ihm gesellen. Doch bis dahin wird sie dem Kind das Träumen beibringen und andere rätselhafte Sachen. Ebenso unergründlich wie die Grossmutter ist deren Freundin Elsa, die ab und zu vorbeikommt mit ihren sonderbaren Geschichten und überraschenden Weisheiten. Elsa, die sich im Frühling wünscht, dem Gras beim Wachsen zuzusehen und zuzuhören. 

Im Dorf leben auch noch andere, seltsame Gestalten. Da wäre die Schneiderin, die Erinnerungen klaut, als wäre nichts dabei. Oder die Nachbarin, die sich von ihrem Mann verdreschen lässt, weil der findet, sie wisse sich in diesem Dorf nicht richtig zu benehmen. Oder die unhöfliche Ziege. Und da war noch Carlo, der im Dorf keinen Platz hatte und den sich schliesslich der Fluss nahm. Denn alles, was im Dorf keinen Platz hat, nimmt der Fluss mit sich bis ins Schwarze Meer.

Das Kind erinnert sich an seinen kleinen Bruder. Es träumt von ihm. In den Träumen trägt der Fluss den Bruder mit sich.

Das mit den Erinnerungen ist so eine Sache. Manche davon machen glücklich. Zum Beispiel, dass der Grossvater Füsse wie Seide hatte. Manche Erinnerung liegt aber herum wie ein schlafendes Tier und versperrt einem den Weg, sagt die Grossmutter.

Es ist der staunende Blick des Kindes, an dem uns die Autorin Leta Semadeni teilhaben lässt. An den Fragen, die es sich stellt, wenn es den Erwachsenen zugehört hat. Unschuldige Fragen, die oft zu wundersamen Geschichten führen. Oder umgekehrt.

Titel: Tamangur, Roman, 157 Seiten, gebunden

Autorin: Leta Semadeni

Verlag:  Rotpunktverlag, Edition blau, 2019

ISBN 978-3-85869-956-5, SFr. 28.- / 18.90 € 

Kurz zusammengefasst: Ein Engadiner Bergdorf, für das die Grossmutter kein gutes Wort übrig hat. Hier bei eben dieser sprachgewandten, klugen Grossmutter lebt «das Kind». Der Grossvater ist gestorben. Tamangur ist eine Geschichte aus dem Blickwinkel eines Kindes, das zusammen mit seiner Grossmutter und den anderen Erwachsenen des Dorfes die Eigenarten dieser Welt erfährt, das Gehörte und Gesehene in sich aufnimmt und zu verarbeiten versucht. Ein Gewebe aus Erinnerungen, Erzähltem, kaum Verhülltem und Träumen führt zu Verknüpfungen und zu Geschichten, in denen neben Phantasie auch Wahrheit steckt.

Für wen: Alle, die das Poetische des Kindseins lieben und ins Erwachsenenalter hinübergerettet haben.

Veröffentlicht von

Jolanda Fäh

Journalistin, Autorin, Lektorin, Herausgeberin

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