Kauen am Seil zwischen den Zähnen

Frei von Lea Ypi: Wieder einmal ein Buch, das ich von ganzem Herzen empfehlen kann. 

Nein, ein Roman ist es nicht, auch wenn es sich fast wie einer liest, so spannend und erstaunlich, so fremd und aus einer ungewohnten Optik. Zumal für eine Westeuropäerin wie mich, die von Albanien bis zum heutigen Tag an ein Land gedacht hat, das Jahrzehnte bis zum Tod von Enver Hoxhas vollkommen abgeschottet war und seit dem Fall des eisernen Vorhangs vor sich hindümpelt. Albaner, das waren Menschen, die aus ihrem Land abgehauen waren. Manchen galt Albaner als Schimpfwort. Ja, und dann ist da noch dieser Doppeladler (Flagge Albaniens), der gelegentlich in Fussballspielen auftaucht und für Ärger sorgt. Da war aber auch die Familie, Flüchtlinge, die, nachdem sie viele Jahre mit uns im Dorf gelebt hatte, eines Tages abgeschoben wurde. Wir waren – unsere Kinder gingen mit deren Buben zu Schule – ebenso entsetzt wie machtlos. Wir wussten: In Albanien erwartete sie das wirtschaftliche Nichts. Aber sonst!?

Schande über mich … wobei zu meiner Verteidigung zu sagen wäre, dass in den 90ern der Balkan mit all seinen Ethnien und ihren Ansprüchen, den Bombardierungen und Gräueln sehr viel Aufmerksamkeit beanspruchte. Da kann so ein kleines Land wie Albanien schon mal aus dem Fokus geraten.

Nun, welch ein Glück, dass mich Lea Ypis Buch erreicht hat und mich staunen lässt, was mir so alles entgangen ist. Doch nicht nur das. Es geht nicht nur um die Geschichte eines Landes, Erinnerungen an den Zusammenbruch eines Systems und das nachfolgende Vakuum, sondern vielmehr um die Menschen: ihre Widerstandskraft, ihr Verhältnis zum den politischen Gegebenheiten und zur inneren und äusseren Freiheit. Ein überaus kluges Buch, das noch lange zu denken gibt. Hier ein Auszug:

Dass die Partei sich auf diese Weise auflösen und vervielfältigen, dass sie als die Krankheit und das Heilmittel zugleich gelten konnte, als die Wurzel alles Bösen und die Quelle aller Hoffnung, verlieh ihr etwas Mythisches, das noch Jahr später als der Grund unseres Unglücks angesehen wurde, als ein dunkler Schatten, der Freiheit wie Tyrannei aussehen liess und Notwendigkeit als Ereignis einer Wahl. Sich von ihrer allgegenwärtigen Präsenz zu befreien, fühlte sich an, wie auf einem Seil herumzukauen, das man gerade zwischen seinen Zähnen entdeckt hat. 

Lea Ypis Buch ist ein Buch der Erinnerungen an die 90er und zur Frage, was denn eigentlich Freiheit ist: Sie erinnert sich an die Tage, als erste Proteste in Tirana gegen das Regime von Hoxha und die Partei laut wurden. An die sprachlichen innerfamiliären Regelungen, wenn es um Menschen ging, die wegen ihrer «Biographie» im Gefängnis sassen. An die systematische Gehirnwäsche, der die Kinder ausgesetzt waren und die Ausweichmanöver der Familie, wenn die Begeisterung der kleinen Lea für Sozialismus, Stalin und Konsorten allzu nervig war oder komische oder gar gefährliche Züge annahm. Besonders intensiv und eindringlich fand ich die Tagebucheinträge der 18jährigen Lea aus dem Jahr 1997, als Albanien im Bürgerkrieg stand und viele Menschen ihre Ersparnisse an Pyramidenfirmen verloren hatten. Es gäbe noch vieles aus diesem Buch herauszupicken: Ich empfehle, es selber zu lesen, und vielleicht noch einmal zu lesen, und noch einmal. Es gibt einiges daraus zu lernen, auch weshalb wir so glauben und denken wie wir glauben und denken.

Autorin: Lea Ypi

Titel: Lea Ypi, Frei, Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Suhrkamp Verlag, 2022, gebunden, 333 Seiten

ISBN 978-3-518-303-47, 28 Euro/42.90 Franken

Kurz zusammengefasst: 90er-Jahre in Albanien. Lea – bis anhin gefüttert mit sozialistischen Slogans und geprägt von einer kindlichen Liebe für Enver Hoxha – erlebt den Zusammenbruch des rigiden sozialistischen Regimes und wächst hinein in eine wirre Zeit, geprägt von wirtschaftlichem Notstand, kriminellen Machenschaften, Hoffnungen, schwierigen Reformen, Bürgerkrieg, Fluchtgeschichten. Über allem die Frage: Wie lebt, interpretiert und erlebt der Mensch Freiheit.

Für wen: Ausnahmslos alle.