Poesie aus einer widersprüchlichen Welt

Gelegentlich noch werden mir Lyrikbände zugestellt. Das hat einerseits damit zu tun, dass ich mal für die Literaturzeitschrift orte tätig war, anderseits mit dem Wissen der poetischen Täter und Täterinnen um die seit nunmehr 40 Jahren erscheinende Poesieagenda*, die ich immer noch mit Susanne Mathies gemeinsam zusammenstelle. Es gibt natürlich noch einen anderen Grund, dass Lyrikerinnen und Lyriker Wege suchen, auf ihr Werk aufmerksam zu machen: Es werden kaum mehr Besprechungen zu lyrischen Erzeugnissen geschrieben, obwohl jährlich Gedichtbände zu Hauf gedruckt werden.

Sei’s drum: heute geht es hier um Lyrik!

Und immer diese Einsamkeit

Christoph Ferber übersetzt gerne italienischsprachige Dichter. Neu ist nun im Caracolverlag eine von ihm zusammengestellte und übersetzte Gedichtesammlung von Plinio Martini erschienen (E in ogni crepa dorme una lucertola/Und in jeder Ritze schläft eine Eidechse). Die meisten werden Martinis Tessin-Roman Nicht Anfang nicht Ende kennen. Falls nicht: es ist die Geschichte eines Tessiners, der nach langen Jahren in Amerika wieder ins heimische Maggiatal zurückkehrt und sich seinen Erinnerungen stellt. Die Gedichte Martinis waren mir bisher nicht bekannt. Auch sie erzählen von einem Tessin, in dem wohl Lerchen singen und Blumen blühen, aber die alltägliche Mühsal und menschlicher Schmerz an die Endlichkeit erinnern. Gedichte auch, die von der Liebe reden, jener zu der Landschaft, den Tieren und Pflanzen ebenso wie zu den Menschen. 

Kein Wind, der am Nachmittag

Einen einzigen Hauch nur bewegt, 

der die Hitze der Steine berührt, wenn

die verlassene Strasse du überquerst

und in den hohen Nestern

auch die Schwalben verstummen.

Du schliesst lautlos das Tor,

ich aber weiss, dass du im Schatten 

kurz innehälst, um das Haar dir

neu zu verknoten, und im Vorraum glänzen 

wie Goldtropfen die Augen.

E in ogni crepa dorme una lucertola/Und in jeder Ritze schläft eine Eidechse, Gedichte von Plinio Martini, ausgewählt und übersetzt von Christoph Ferber, Deutsch /Italienisch, Caracol-Verlag 2023.

Reisen heisst untreu sein

Irène Bourquin hat im selben Verlag gleichfalls einen neuen Gedichtband herausgegeben: Schattenkaleidoskop. Die Dichterin hat schon in anderen Gedichtbänden ihre Reisebeobachtungen in Gedichtform gegossen. In Schattenkaleidoskop durchstreifen ihre Leser mit ihr die Provence und Ligurien, bleiben vor Statuen stehen, schlendern durch Kirchen, spazieren am Strand und entdecken dabei Befremdliches im Alltäglichen. Das Auge pickt sich Widersprüche heraus, es werden Ginsterbüsche zu Flammen, Cirruswolken wedeln über den himmlischen Laufsteg und Hunde zeigen glitzernde Aureolen.

Am Ende des Strands

Zwei Felsflossen

Elegant 

ein Flügelpaar 

hellgrau im Türkis

Schattenkaleidoskop. Gedichte von Irène Bourquin, Caracol-Verlag 2023.

Ihr seid der Abgrund und der Ursprung

Der dritte Gedichtband, den ich hier vorstellen möchte, ist gleichfalls einem italienischsprachigen Dichter gewidmet und im Limmat-Verlag erschienen. Autor der Gedichte ist Fabio Pusterla, die Übersetzungen sind wiederum von Christoph Ferber. Das Nachwort hat Georges Güntert verfasst. Der Titel des beeindruckenden Bandes lautet: In der vorläufigen Ruhe des Flugs/Nella quite provvisoria del volo. Die in diesem Buch vereinten Gedichte stammen aus den Jahren 2010 bis 2020. Gedichte, in welchen das einzelne Lebewesen als Teil des Kollektivs Welt verstanden sein will. Hier ein Auszug aus einem Pusterla-Gedicht:

…sogar bei Ebbe

Tiefdruck des Blutes, des Wetters, was leitet uns da?

Eine Syntax, ein Rhythmus?

Oder der Gedanke an die Kinder,

das Rollen eines Basses, Akkorde und noch nicht, 

nein, immer noch nicht,

resignierte

Dissonanzen?

In der vorläufigen Ruhe des Flugs/ Nella quiete provvisoria del volo, Gedichte Italienisch und Deutsch von Fabio Pusterla, Übersetzung und Auswahl von Christoph Ferber, Limmat-Verlag. 

*Die Poesieagenda vom kommenden Jahr, Ausgabe 41, (siehe Bild oben) ist bereits wieder in Vorbereitung. Und wie bei jungem, vielversprechendem Wein ist es mit der Poesieagenda gleich: Vorbestellen ist nie verkehrt bei http://www.orteverlag.ch.

Etwas ist immer

Fabio Andinas Roman Tage mit Felice ist eines jener Bücher, die man nicht so schnell vergisst. Schon deshalb konnte ich kaum erwarten, Andinas nächsten Roman Davonkommen zu lesen. Auch diese Geschichte spielt wieder im Tessin, man kann sich vorstellen im selben Dorf im Bleniotal, das wir schon aus Tage mit Felice kennen. 

Protagonist ist diesmal ein junger Mann, der von seiner Gattin vor die Tür gesetzt wird. Damit nicht genug: Mit allen möglichen Tricks versucht sie, den gemeinsamen Sohn von seinem Vater fernzuhalten. Die daraus entstehenden Grabenkämpfe, unbefriedigende Gelegenheitsjobs, Schulden und die Notwendigkeit, eine Hütte in einem Bergdorf zu beziehen, machen dem «Helden» dieser Geschichte das Leben schwer. Er driftet immer mehr in eine Tabletten- und Alkoholsucht ab. Wäre da nicht der Sohn, mit dem er jedes zweite Wochenende im Bergdorfverbringt, wer weiss, ob der verzweifelte Mann wieder auf die Beine kommen würde. Das Ende des Romans lässt hoffen.

Der Ich-Erzähler deliriert. Oder er ist wütend. Vor allem auf seine Frau, die sich von ihm scheiden lassen will, bereits einen Neuen hat und ihm den Kontakt zu seinem Sohn verweigert. Er erträgt seine Tage nur noch im Dämmerzustand, hetzt durch eine ihm fremd und feindlich gesinnte Welt. Doch dann landet er bei Dr. Bianchi, der ihm klipp und klar sagt, er müsse dem Leben zulächeln, oder er werde aus dem Fenster des fünften Stocks springen. 

Das mit dem Lächeln gelingt vorerst nicht, denn «etwas ist immer». Die nervenden Menschen, der alte Volvo mit seinen Macken, die Musik in seiner Lieblingsbar, die zickende Ex, Geldmangel, der lange Weg von seinem Bergdorf in die Stadt. Manchmal weiss unser Protogonist auch nicht mehr, was er in der vergangenen Nacht getan hat. Dann steht meist ein gestohlener Rhododendron auf seiner Gartenmauer. 

Man könnte diesen Roman trotz gelegentlicher Situationskomik als blossen Selbstmitleidsmonolog und Männer-Gejammere über die bösen Frauen lesen. Das würde dem Text aber nicht gerecht werden. Vielmehr ist es eine Geschichte, die nach und nach vom Lärm in die Stille führt. Denn was unser Held zu betäuben versucht, ist das Dröhnen der Verzweiflung. Verzweiflung vor allem über das misslungene Eheleben, das harmonisch begann und seinen Höhepunkt in der Geburt des Sohnes feierte, um dann in Vorwürfen, Unverständnis, Verachtung, Verlassenheit zu enden. 

Andinas Hauptfigur ist allein; gestohlene Rhododendren ändern das nicht, auch wenn sie im Garten seiner Berghütte ordentlich gedeihen. Doch gerade das Alleinsein, die Abgeschiedenheit scheinen dem jungen Vater gut zu tun. Rast er zu Beginn noch zwischen Arbeit, Arzt, Juristin und Bergdorf hin und her, so wandert er später durch die Wälder, schafft Ordnung, hackt Brennholz, heizt ein, beginnt wieder zu malen. Vor allem aber geniesst er die knapp bemessene Zeit mit seinem Sohn. Andina beschreibt eine liebevolle, beinahe zu rührende Vater-Sohn-Beziehung.

Allerdings: Etwas Teuflisches passiert immer. Jedoch mit der Zeit scheint es, als wäre diese Tatsache zu meistern.

Dass die Exfrau in diesem Roman als unsensible Hexe wegkommt, lässt bei mir als Leserin den Wunsch aufkommen, man hätte der Frau mit etwas gutem Willen ein Fünkchen Güte zuschreiben können. Eine nur negative Figur wirft Fragen auf, die auf den Autor zurückfallen. Klar, es gibt sie, Elternteile, die ihre Streitigkeiten auf dem Rücken der Kinder austragen. So gesehen auch ein Buch, wie man es auf keinen Fall machen soll, möchte man seinen Kindern nach einer Scheidung den Gang zum Psychologen ersparen.

Besonders gut an diesem Roman gefielen mir: 

Das Tempo: zu Beginn gehetzt, mit der Zeit ruhiger. 

Andinas feine Beobachtungsgabe und Direktheit. Wie er beispielsweise beschreibt, was ein Wachmann in einem Luxusladen erlebt und was ihm so durch den Kopf geht, ist einfach wunderbar. Der Autor ist ein toller Erzähler mit einer grossen Gabe zum scheinbar unscheinbaren Detail.

Von 8 bis 16 Uhr musste ich die Bulgari-Boutique bewachen, während Arbeiter das Rollgitter des Haupteingangs reparierten, das auf halber Höhe feststeckte, die Leute mussten beim Rein- und Rausgehen den Kopf einziehen und ich sagte, Achtung der Kopf.

Der Aufbau: tagebuchartige, kleine Abschnitte, darüber, wie die Tage ablaufen, dazwischen immer wieder Erinnerungsbruchstücke. Der Leser begleitet auf diese Weise den Protagonisten über ein Jahr.

Titel: Davonkommen, Roman, 242 Seiten, gebunden

Autor: Fabio Andina, übersetzt von Andreas Löhrer

Verlag:  Edition blau, Rotpunktverlag, 2023

ISBN 978-3-85869-976-3, 26.80 Euro/30 Franken

Kurz zusammengefasst: Ein Mann und Vater eines vier Jahre alten Sohns soll geschieden werden und stürzt so richtig ab. Ein Haus in den Bergen wird zu seinem Refugium. Kompromisslos ehrlich. 

Für wen: Bestimmt nicht nur für Männer, die mit ihrer Ex-Frau schlechte Erfahrungen gemacht haben. Dafür ist der Roman einfach zu gut geschrieben.

Vom Glück, in einem Tessiner Bergbach zu baden

„Unser“ Tessiner Dorf hat uns einen Brief geschickt mit der freundlichen Aufforderung, doch gefälligst in der Deutschschweiz zu bleiben. Aber ja, liebe Tessiner, wir bleiben hier, wenn es uns auch noch so gelüsten würde, den Frühling im Süden zu verbringen.

Damit mir in meiner coronabedingten Tessin-Abstinenz nichts fehlt, habe ich den Roman Tage mit Felice von Fabio Andina gelesen. Das war, als hätte mich einer an einen Ort entführt, wie ich ihn so höchstens aus der Kindheit kenne, als meine Sicht auf diese Welt eine einfache war, die Tessiner mich noch „carina“ fanden und ich im Gegenzug die Tessiner lustig, lebhaft und ihre Dörfer mit den farbigen Häusern an den steilen Bergtälern unvergleichlich schön. Nun, nach einigen Jahrzehnten, in denen wir fast alle unsere Urlaubstage als Zücchin im schweizerischen Süden verbracht haben, ist mein Tessinbild entromantisiert und … 

Bevor ich weiter Dinge schreibe, die nicht hierhergehören, zu Andinas beachtenswertem Roman:

Die Geschichte spielt zuhinterst im Val Blenio. Der alte Felice lebt in Leontica. Er wohnt allein in einem bescheidenen Haus, seine Tage verbringt er nach seinem eigenen Stundenplan: Frühmorgens eine Wanderung den Berg hinauf zu einem pozzo, einer Bach-Gumpe, später ein Besuch bei Sosto dem Bauern, dann Holzhacken, ein Gang ins Dorf, eine kurze Fahrt ins Nachbardorf, ein Besuch bei einer Nachbarin, ein Abstecher in eine Bar. Hier trifft Felice täglich dieselben Menschen, Dörfler wie er. Man kennt sich, man hilft sich, man tauscht die Ernte aus den Gemüsegärten aus. Man trinkt zuviel, palavert, spielt Scopa, singt sehnsüchtige Lieder und ärgert sich. Felice spricht wenig. Er geht seiner Wege. Doch seine Haltung gegenüber den Mitmenschen beruht auf Akzeptanz.

Bei Regen, Schnee und Kälte ebenso wie bei schönem Wetter begleitet ein Nachbar und Ich-Erzähler den alten Felice hinauf zu seinem Baderitual und kommt dabei selbst zur Ruhe. 

Worum geht es: Um das Glück, das in der Bescheidenheit wohnt. Um Toleranz und Gemeinschaftssinn. Um das oft karge, unaufgeregte Leben in einem Bergdorf. Um den Genuss, der in der Stille und im Schweigen steckt.

Dem Autor gelingt es, uns am Glück der beiden Protagonisten teilhaben zu lassen. Die paar Tage, die sie gemeinsam verbringen gleichen sich, weichen nur in Nuancen voneinander ab, folgen einem Rhythmus, der einem wie minimalistische Musik vorkommt. So genügsam, wie die Bergler ihr Leben leben, so geradeaus ist auch Andinas Erzählweise.

Andinas besonderes Augenmerk liegt auch auf dem Funktionieren der dörflichen Gemeinschaft. Der Zusammenhalt der Dörfler basiert vor allem aus der Lage des Dorfes und seinen Gegebenheiten. Religion, sprich anerzogene Mitmenschlichkeit, mag eine Rolle spielen, doch wenn, dann eine nebensächliche. An abgelegenen Orten ist es nichts als natürlich, einander auszuhelfen. Jeder weiss, dass er selber irgendwann Hilfe benötigt. 

Eine Geschichte, so positiv und warmherzig, dass sie als Medizin gewertet werden darf. Eine Geschichte auch von eigenwilligen, selbstbestimmten Menschen, wie sie mir früher noch begegneten: z. B. die alte, zähe Ziegenbäuerin, deren Rücken sich Jahr für Jahr mehr der Erde zukrümmte, oder Thuri , der arbeitsam und charmant war, doch sobald er Geld in der Tasche hatte, in den Rausch flüchtete. Andere mehr, die längst von der Bildfläche verschwunden sind. Möglich, dass zuhinterst in den Tälern des Tessins noch ein paar davon zu finden sind. 

Titel: Tage mit Felice, Originaltitel: La pozza del Felice, Roman, gebunden, 235 Seiten

Autor: Fabio Andina, aus dem Italienischen von Karin Diemerling

Verlag: Rotpunktverlag, Edition blau, 2020, http://www.editionblau.ch,

ISBN 978-3-85869-863-6

Kurzbeschrieb/-bewertung: Als LeserInnen dieses Romans verbringen wir ein paar Spätherbsttage mit Felice und seinem Nachbarn zuhinterst im Val Blenio. Felice ist anspruchslos, grosszügig, nachdenklich, und manchem mag er als Kauz erscheinen. Doch er wird seinem Namen gerecht. Ein Buch über inneren Frieden und die Kunst des Ungekünstelten. Einfach schön.

Für wen: Für alle, die an Tessin-Entzug leiden. Tessin von seiner schönsten Seite!