Sasha Filipenko ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt und in der Schweiz lebt. Sein Romanheld Pjotr Nesterenko aus seinem Roman Kremulator wiederum war ein adeliger Russe, den die Kriegswirren in Europa herumscheuchten, bis er in die Sowjetunion zurückkehrte und dort zum Direktor des Moskauer Krematoriums wurde: ein wahrlich heisser Job, vor allem zu Zeiten der Massensäuberungen der Stalin-Diktatur. Durch Nesterenkos Hände und den Keller des Krematoriums gingen nicht nur gewöhnliche Menschen, sondern eine ganze Reihe von Berühmtheiten.
Dann, 1941, wird Nesterenko verhaftet. Hier setzt der Roman von Filipenko an: Zwischen dem Verhafteten und seinem Ermittler findet ein Schlagabtausch statt, den man angesichts der drohenden Erschiessung von Nesterenko nicht erwarten könnte und der vergnüglich zu lesen ist, auch wenn einem zwischendurch der Atem stockt. Nesterenko setzt seinem voreingenommenen Gegenüber seine Intelligenz und beissenden Spott entgegen: Mit dem Tod kann man ihm nicht drohen, den Tod probt er seit Jahren.
Nesterenko habe, so erzählt Sasha Filipenko in einem Interview, tatsächlich gelebt. Die Erforschung seiner verschlungenen Lebenswege habe den Autor viel Zeit und Aufwand gekostet, einige Akten seien immer noch kaum zugänglich (Wikipedia schweigt sich über ihn aus.) Inwieweit der Roman dem echten Leben des ersten Moskauer Krematoriumdirektors folgt, ist unwesentlich. Tatsache ist, dass – ob wahr oder ersonnen – das Leben Nesterenkos abenteuerlicher nicht hätte sein können. Als Offizier kämpft er für das Zarenreich und gegen die Revolution. Das macht ihn später zum Flüchtling. Als er Jahre danach den Versuch wagt, in die Heimat zurückzukehren, muss er sich den neuen Gegebenheiten unterordnen. Grundsätzlich gilt er in der Sowjetunion als höchst verdächtig. Weil er deutsch spricht und die Erbauer des neuen Moskauer Krematoriums Deutsche sind, ist er die ideale Besetzung für den Job als Direktor der Anlage. Doch nun, im Jahre 1941 ist wiederum Krieg und die Deutschen stehen vor den Toren Moskaus. Keine guten Zeiten für verdächtige Subjekte! Nesterenko versucht, seinen Ermittler zu durchschauen und dem Tod von der Schippe zu springen. Doch sein Gegenüber erweist sich nicht nur als ergebener Funktionär, sondern in seinem Eifer auch als talentiert. Er lässt Nesterenko in mehreren Verhören seinen Lebensweg erzählen, um ihm am Ende aus dem Gehörten einen Strick zu drehen.
Filipenko führt uns auf in eine Schreckenszeit zurück, lässt Berge von Revolutionsopfern vor unseren Augen auftauchen und zu Staub und Asche zerfallen. Gewaltherrschaft, die Unterdrückung von Andersdenkenden, das Auslöschen von Menschen und Geschichte, eine Welt, in der die Lüge und das Verdrehen von Tatsachen die Regel ist. Kommt uns das bekannt vor? Putin und seine belarussischen, türkischen, chinesischen, syrischen Freunde lassen grüssen. (Die Liste ist beliebig ausbaubar.)
Die Menschen entscheiden sich – die Gründe dafür sind mal logisch, mal gewagt, mal schlichtweg dumm – in ihrem Leben öfters falsch. Die Konsequenzen dieser Entscheidungen sind aber unabsehbar. Dies ist die Quintessenz von Filipenkos Kremulator.
… Von klein auf bringen uns die grossen Schriftsteller bei, dass der Mensch ein komplexes Wesen sei, aber die Leute hier lassen eher das Gegenteil vermuten. Wäre ich Schriftsteller, würde ich sie ganz flach darstellen. Ausser aufgeblasen und dumm sind sie nichts …
Hier also ein Autor, der uns solche und andere Wahrheiten um die Ohren schlägt und uns damit wachrütteln möchte. Ein Roman, der zwar in der Geschichte zurückgreift, aber aktueller nicht sein könnte.
Titel: Kremulator, Roman, 255 Seiten, gebunden
Autor: Sasha Filipenko, übersetzt von Ruth Altenhofer
Verlag: Diogenes, 2023
ISBN 978-3-275-07239-6, 25 Euro/34.90 Franken
Kurz zusammengefasst: Der erste Direktor des Moskauer Krematoriums, Nesterenko, wird 1941 verhaftet und von einem selbstgerechten Ermittler zu seinem Leben befragt. Dem Gefangenen wird Spionage vorgeworfen. Ihm droht die Erschiessung. Es geht ans Eingemachte. Oder wie es das Vorwort sagt: Alles in diesem Buch ist wahr – selbst das Erfundene.
Für wen: alle und alle anderen auch.