Jedem seinen Speck in roter Sauce

«Der grosse Sprung nach vorn»: Was sich in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts Mao und seine Führungsriege so schön als wirtschaftliche Vorwärtsbewegung Chinas ausgemalt hatten, entpuppte sich als Fiasko, das in einer grossen Hungersnot gipfelte. 

Wei Zhang bearbeitet in ihrem Roman «Satellit über Tiananmen» das Thema des «grossen Sprungs» aus Sicht der kleinen Leute: der Stahlarbeiter, der Hausfrauen, der Landbevölkerung. 

Der Roman ist in einem Neubauquartier rund um ein grosses Stahlwerk angesiedelt. Grossmutter Guo freut sich, dass sie zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter hierherziehen kann. Sie wird sogleich zur Parteisekretärin ernannt, eine wahre Berufung für die energische Frau, die sogleich bereit ist, dem «grossen Sprung» auf die Sprünge zu helfen. Zuerst verdonnert sie die Quartierbewohner dazu, eine Strasse zu bauen. Doch damit sind noch keine Preise zu gewinnen und «kein Satellit wird über Tiananmen steigen»: Also entschliessen sich die Frauen der Siedlung, ihre im Stahlwerk arbeitenden Männer darin zu unterstützen Stahl herzustellen. Sie sind damit nicht alleine: Im ganzen Land schiessen Schmelzöfen aus dem Boden. Ganze Berghänge werden abgeholzt, um diese zu füttern. Wo kein Eisenerz vorhanden ist, werden einfach Pfannen, Nägel und Matratzenfedern in die Öfen geworfen. Kein Opfer ist zu gering, die vorgegebenen Ziele der Parteiführung zu erreichen. 

(Hier ein kurzer geschichtlicher Überblick, also keineswegs vollständig und alle Probleme umfassend: Grosse Teile der Landbevölkerung waren plötzlich in die Industrialisierung des Landes eingebunden und konnten sich nicht mehr der Produktion von Lebensmitteln widmen. Ausserdem war der in den kleinen Schmelzöfen von den Kommunen hergestellte Stahl oft von minderer Qualität; die Bauwerke, die schnell hochgezogen wurden, waren gleichfalls oft schlecht ausgeführt. Die Ziele der landwirtschaftlichen Massnahmen zur Ertragssteigerung konnten nicht annähernd erreicht werden,  was schliesslich zu einer grausamen Hungernot führte.)

Wei Zhang zeichnet ein liebevolles, wenn auch zeitweise humorvoll-groteskes Bild einer Leidensgemeinschaft, die bereit ist, mit Glauben und viel Einsatz für ein versprochenes Ideal zu kämpfen. Nur manchmal kommen Zweifel auf: Dann, wenn der Schmelzofen schon wieder ein menschliches Opfer fordert. Oder wenn die redenschwingenden Herren gar nicht mehr aufhören wollen, Reden zu schwingen. Oder wenn bei einer Fahrt ins ländliche Heimatdorf sichtbar wird, was der «grosse Sprung» an Schäden in der Landschaft hinterlässt. Oder wenn bekannt wird, dass in den Gemeinschaftskantinen plötzlich kein Speck an roter Sauce mehr zu holen ist. Dann kommt plötzlich die Frage auf, ob das mit den elefantengrossen Schweinen, die in China gezüchtet wurden, eventuell eine Mär sei. 

Wei Zhang beschreibt Menschen, die Gemeinschaftssinn gross schreiben, doch sollte der eigene Bauch dabei auch zu seinem Recht kommen. Kurz: man laviert sich durch; manchmal ist man hart wie Stahl und dann wieder weich wie Seidentofu; man schweigt, wo man schweigen muss; und man versucht mit allen Tricks ein Stück vom Glück abzubekommen. Unterdessen sieht man Menschen, selbst ganze Dörfer verschwinden und weiss: die neue kommunistische Gesellschaft erfordert Opfer. Und bis das Paradies kommt, sind alle gerade soweit unglücklich, dass es noch auszuhalten ist.

Ein Buch über Opferbereitschaft für ein Ideal, auch über Verführbarkeit und darüber, dass am Ende die kleinen Leute die Konsequenzen tragen, wenn die Führungsebene versagt. Kein Roman, welcher sich direkt auf die Probleme des heutigen China bezieht, es sei denn: siehe oben (man laviert sich durch und sieht zu, dass man etwas von der Speckseite für sich beiseiteschafft. Man glaubt «denen da oben», weil man etwas glauben will. Und bis alles besser wird, ist man gerade soweit unglücklich, dass es noch auszuhalten ist.)

Autorin: Wei Zhang

Titel: Satellit über Tiananmen, Roman

Verlag: Elster und Salis, 2022, gebunden, 379 Seiten

ISBN 978-3-03930-026-6, 24.­– Euro/32.­– Franken

Kurz zusammengefasst: Ende der 50Jahre in China. Der Geruch von Schweinespeck in roter Sauce zieht durch die Strassen, die Verheissungen einer neuen Gesellschaft hängen in der Luft. In Grossmutter Guos «Harmoniedorf», einem Quartier im Umfeld einer grossen Stahlfabrik, wird eifrig und voller Naivität «am grossen Sprung nach vorn» gearbeitet. Doch irgendwie will nichts klappen.

Für wen: Es kann keinem schaden, sich mit China und seinen Traumata auseinanderzusetzen.

Die Barbaren, das sind immer die anderen

China: ein Riesenland, in dem sich einiges tut, das die Welt wirtschaftlich in Atem hält. Und immer ist da auch etwas Abweisendes, Undurchschaubares, Anderes. China verstehen fällt Europäern immer noch schwer, jahrhundertelange Handelsbeziehungen hin oder her. Da bietet Stephan Thomes Buch unter dem Titel Gott der Barbaren einiges an Erhellendem, einmal abgesehen von Spannung und einem Eintauchen in Geschichte, die wir so nie gehört haben.

Thomes Roman spielt um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Chinas Kaiser und die Beamten im Reich wollen alles so bewahren, wie es immer war. Doch eine Rebellenarmee, angeführt von Hong Xiuquan, der sich als Christ und als zweiter Sohn Gottes betrachtet, ist drauf und dran, das Land zu erobern (der sogenannte Taiping-Aufstand). Von der Küste her drängen Engländer und Franzosen ins Land und sind bereit, dem Kaiserreich die Segnungen des Handels  und Fortschritts aufzuzeigen, notfalls mit Kanonen (Zweiter Opiumkrieg). Ein fürchterliches Gemetzel nimmt seinen Lauf. Gemäss Thome – in einem Interview (auf youtube zu finden) – fielen den Auseinandersetzungen 20 bis 30 Millionen Menschen zum Opfer.

Stephan Thome, der deutsche Autor dieses bedeutsamen Romans, bringt uns einen wichtigen Teil von Chinas Geschichte und die Perspektiven der Beteiligten näher. Als Leser begleiten wir einen abenteuerlustigen Missionar, einen steifen britischen Diplomaten, den unbeugsamen Oberbefehlshaber der Gunan-Armee, kotaubefliessene Beamte und andere auf ihrem Weg durch die Jahre des Chaos. So abstrus ihre Gedankengänge und Rechtfertigungen uns oft erscheinen mögen, so logisch wirken sie aus damaliger Sicht und Herkunft des einzelnen. 

Der ganze interkulturelle und religiöse Konflikt wird durch umfangreiche historische Studien Thomes gestützt. Thome selber hat in Nanking studiert, jener Stadt also, die ehedem die Hauptstadt der Taiping-Rebellen war. 

Dem Autor gelingt es, sich in seine Figuren hineinzuversetzen. Ihre Handlungsweisen werden vor dem Hintergrund ihrer kulturellen Prägung verständlich; ihre inneren und äusseren Konflikte sind dermassen dargestellt, dass wir zu begreifen beginnen. So stellen Chinas Beamte fest: Der Westen lässt sich nur mit seinen eigenen Waffen schlagen, dem Handel. Und die christlichen Missionare müssen sich die Frage stellen: Wäre das Gemetzel zu vermeiden gewesen, hätten sie nie versucht die Chinesen zu christianisieren? 

Das Trauma, das China Mitte des 19. Jahrhunderts erlebt hat, hat das Land tiefgreifend verändert und wirkt nach. Es liefert Gründe, weshalb das heutige China Falun Gong als Sekte betrachtet und die Anhänger als Gefahr für die innere Sicherheit betrachtet. Es liefert Gründe, weshalb in Hongkong die Polizei auffährt, wenn die Menschen gegen ein Auslieferungsgesetz streiken und hat Gründe geliefert, als die Panzer auf den Tiananmen-Platz auffuhren, um Studenten zusammenzuschiessen, die etwas Demokratie verlangten. Auch wenn die USA und China sich gegenseitig handelspolitisch die Fäuste zeigen, geht es immer noch um Geld und darum, wer wem seine Sicht der Dinge aufzwingt. Am gegenseitigen Barbarentum hat sich in 200 Jahren nichts geändert.

Titel: Gott der Barbaren, Roman, 719 Seiten, gebunden

Autor: Stephan Thome

Verlag: Suhrkamp Verlag 2018, http://www.suhrkamp.de

ISBN 978-3-518-42825-2, Fr. 35.30/Euro 25.-

Kurzbeschrieb/-bewertung: Ein deutscher Missionar, Philipp Johann Neukamp, den mehr die Abenteuerlust als der Glaube antreibt, trifft in China ein und schliesst sich den Taiping-Rebellen an. Er verliert dabei mehr als seine Hand. Als Leser irren wir in diesem chinesischen Wahnsinn herum auf einer Reise durch eine Vergangenheit, die uns oft genug wie Gegenwart erscheint: nicht zu beherrschen, unübersichtlich, führungslos, gewalttätig.

Für wen: Für alle. Unbedingt lesen!