„Es entstand ein kurzes Schweigen…“

Es gibt Bücher, die im Innern vollumfänglich halten, was der Einband verspricht. Das auf Leinen gedruckte Umschlagbild von Ein Sonntag auf dem Lande, herausgegeben bei Dörlemann Zürich, zeigt einen Ausschnitt aus einem von Max Liebermann gemalten Gemälde: „Wannseegarten“. Die Buchgestalter bei Dörlemann hätten nichts Passenderes für ihre Neuausgabe von Pierre Bosts Roman finden können. Der impressionistische Maler hat das Motiv Wannseegarten immer wieder neu aufgegriffen. Dasselbe macht die Hauptfigur in Ein Sonntag auf dem Lande: Der 76jährige Maler Monsieur Ladmiral malt immer wieder neue Ecken seines Ateliers oder ein Stück aus seinem weitläufigen Garten. Monsieur Ladmiral hat sein Leben lang gemalt und damit Erfolg gehabt. Er wird aber nicht als Erneuerer in die Geschichte der Malerei eingehen, wie er grüblerisch feststellt. Nun ist er alt und lebt allein auf dem Lande. Jeden Sonntag bekommt er Besuch von seinem treuen Sohn Gonzague und dessen Familie. So auch an diesen sonnigen Sommersonntag. Alles läuft ab wie immer. Die Beteiligten versuchen sich nicht auf die Zehen zu treten, die Gespräche laufen in den gewohnten Bahnen, man ist bemüht, sich zu respektieren, wenn man sich schon nicht immer versteht. Kleine Missverständnisse und Missstimmungen, gefolgt von kurzem Schweigen, tauchen auf. Gonzague möchte seinem Vater gefallen, diesem alten Herrn, dessen Tage gezählt sind. Doch dann erscheint unerwartet Tochter Irène, in allem das Gegenteil von Gonzague: laut, charmant, freigeistig und – zu des Sohnes Leidwesen – Ladmirals Liebling. Sie wirbelt die sonntägliche Szene munter durcheinander, bevor sie wieder Richtung Paris verschwindet.

Mit seinem Erzählstil – wunderbar langsam – gelingt es Pierre Bost, die Situation unmittelbar auf den Leser zu übertragen. Ich hatte den Eindruck, mich mitten in einem Film mit langen Einstellungen zu befinden: Da ist diese gegen Mittag sich steigernde Hitze, jeder Raum des Hauses hat einen eigenen Geruch, eine leichte Schläfrigkeit legt sich nach dem Essen über Haus, Garten und Bewohner, Grillen zirpen, sanft rascheln die Blätter der Bäume, Kinderstimmen klingen von den Wiesen her. Die Gespräche dümpeln vor sich hin, jeder denkt sich seinen Teil zum Wesen des anderen. Wünsche an den Sohn, die Schwester, den Vater wären da, doch deutlich ausgesprochen werden sie nicht. Andeutungen schweben in der von der Sommerhitze leicht flirrenden Luft. Tatsächlich ist dies ein Text wie ein impressionistisches Gemälde: mal geht er den Gedanken des alten Mannes nach, mal jenen seiner Besucher. Aussen- und Innensichten wechseln  sich ab.

Und da macht es auch nichts, dass dieser Roman bereits 1945 das erste Mal erschienen ist. Seine Themen wie der Tod und das gegenseitige innerfamiliäre Bemühen um Verständnis, die Akzeptanz einer Lebensweise, die dem einen befremdlich, dem anderen die einzig richtige erscheint, sind stets aktuell.

Es ist dem Dörlemann-Verlag hoch anzurechnen, dass er diesen Autor aus der Vergessenheit geholt hat, Ich möchte definitiv mehr von Pierre Bost (geb. 1901, gest. 1975) lesen!

 

Titel: Ein Sonntag auf dem Lande, Roman, Leineneinband, 158 Seiten

Autor: Pierre Bost, aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Rainer Moritz

Verlag: Dörlemann, Zürich, 2018, http://www.doerlemann.com; Originalausgabe bei Gallimard 1945

ISBN 978-3-03820-061-1, FR. 20.50/EURO 17.–

Kurzbewertung: Familiensonntag auf dem französischen Land – ein Gemälde aus Licht und Schatten in sanften Zwischentönen und feinem Humor, sinnlich und besinnlich erzählt. Ausserdem ein hübsches, kleines Buch, das man auch gerne in der Hand hält.

Für wen: Für alle, die wieder einmal mit Überzeugung das Wort „grosse Literatur“ gebrauchen möchten.