Wie oft muss sich Afrikas Gewaltgeschichte noch wiederholen?

Der Elster-Verlag hat den bereits 1968 in Frankreich erschienenen Roman Das Gebot der Gewalt von Yambo Ouologuem neu aufgelegt, ein Werk, dass dannzumal für einige Aufregung – überschwängliches Lob, aber auch Plagiatsvorwürfe – sorgte und die Karriere des aus Mali stammenden Autors massgeblich beeinflusste. Heute kann das erstaunliche Werk frei von solchen Wirbeln gelesen werden. Doch täusche man sich nicht: Dieses Buch wirbelt einen ganz schön durcheinander. Das Gebot der Gewalt ist ein erschütterndes, aber auch literarisch beachtenswertes Werk.

Worum geht es?:

Der Autor, so der Klappentext, „verdichtet knapp achthundert Jahre afrikanischer Geschichte bis in das Jahr 1947, als das fiktive Reich Nakem an der Schwelle zur Unabhängigkeit steht und ein Sohn des Reiches zum Studium nach Paris geschickt wird“. Yambo Ouologuem hat eine einzigartige Collage von extremer klanglicher Schönheit und Wucht geschaffen. Die Hauptrolle darin spielen die Saïd, die Mitglieder einer erfundenen Herrscherfamilie: grausam, gnadenlos und mit allen Wassern Afrikas gewaschen. Gegenspieler dieser machthungrigen Feudalherren sind die Kolonialherren und Missionare, die den Einheimischen Fürsten mal wissend, mal naiv in die Hände spielen, wenn es um Sklavenhandel, Kriegshändel oder um das bewusst gesteuerte Bild geht, das Europa von den Völkern Afrikas hatte und immer noch hat. 

Die Mächtigen spielen ihr makabres Spiel mit allen Mitteln: Zauberei, Vergewaltigungen, Drogen, religiöse „Erweckungen“, Erpressung, Mord. Doch wenn ich hier in der Vergangenheit spreche, so ist mir doch das Heute und die Zeit nach Erscheinen von Yambo Ouologuems Roman gegenwärtig: Ich denke an Idi Amin; an den Genozid in Ruanda; an all die Bürgerkriege, über die ich die Übersicht längst verloren habe; an Kindersoldaten, die mit Drogen gefügig gemacht wurden; an die Ströme von Flüchtlingen; gefügig gemachte Frauen, die neuen Sklavinnen Europas. Das Erschreckendste also ist, dass Yambo Ouologuems Roman nichts von seiner Aktualität verloren hat. Dass diese Geschichte Afrikas, die Ausnutzung der Menschen und des Landes, sich ständig wiederholt, als wäre sie ein Gebot.

Yambo Ouologuem verwebt Mythen, Überlieferungen, Bibelzitate, Legenden, Ausrufe zu einem einzigartigen Text. Mal meinte ich, einem Griot oder einem arabischen Märchenerzähler zuzuhören, der seine Geschichten mit Ausrufen wie „ouassalam“ und „Allah hamdoulila“ untermalt; dann wieder erzählt der Autor, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, von erotischen Ausschweifungen und malt brutale Szenen, die in einer extremen sprachlichen Klarheit daherkommen, was ihre Aussage noch schauerlicher macht. Und öfters greift der Autor zu einer beissenden Ironie. Immer aber ist sein Text kraftvoll-poetisch und seine Aussage ein Angriff auf die Mächtigen dieser Welt, die erbarmungslos ihre Position ausnutzen. 

Ich möchte hier als Lese-Ergänzung  und -vergleich auch auf einen neueren afrikanischen Roman hinweisen, den ich vor einiger Zeit besprochen habe: Tram 83 von Fiston Mwanza Mujila.

Titel: Das Gebot der Gewalt, Roman, 272 Seiten, gebunden, mit einem Nachwort zur Geschichte des Buches und des Autors

Autor: Yambo Ouologuem, aus dem Französischen von Eva Rapsilber

Verlag: Elster-Verlag, Zürich, http://www.elsterverlag.ch

ISBN 978-3-906903-11-8, Fr. 32.–/Euro 24.-

Kurzbeschrieb/-bewertung: Afrikanischer Geschichtsroman, wie man noch keinen gelesen hat. Poetisch, kraftvoll, kritisch, unerschrocken und voller Schrecknisse räumt er mit Mythen über Afrika und die Menschheit auf.

Für wen: Für kritische Geister und solche die es werden wollen: Lesen und Nachdenken! 

„Unschuld ist nichts als Feigheit“ – oder: testosteron-gesteuerte Apocalypse now

Nein, Tram 83 von Fiston Mwanza Mujila ist kein Roman, der es einem leicht macht. Nicht was die Handlung und den Schauplatz anbelangt, nicht, was die Figuren anbelangt, und auch nicht, wenn es darum geht, zu verstehen, wer denn hier überhaupt erzählt. Mal sind wir nahe bei den zwei Hauptfiguren Requiem und Lucien, mal überblicken wir die Situation aus der Vogelperspektive und dann wieder spricht einer, der sich nicht vorstellt, in der Wir-Form. Was chaotisch wirkt, dürfte jedoch vom Autor beabsichtigt sein. Denn es ist eine apokalyptische Szene, die er darstellt, ein Drunter und Drüber aus Menschen, Vergnügungssucht, schnellem Sex, Betrug, Korruption etc., untermalt von Jazz und südamerikanischen Rhythmen. In diesem Setting weiss keiner, wer er mal war, noch was er morgen sein möchte. Eine Weltuntergangsstimmung, in der ein Mann wenig zählt und ein toter Hund mehr wert ist als ein Mädchen.

Bevor ich mich jedoch noch ganz verheddere in dieser Geschichte, erst ein paar Worte zum Autor von Tram 83:

Fiston Mwanza Mujila lebt in Österreich und unterrichtet dort afrikanische Literatur. Er stammt aus dem Kongo, aus der Stadt Lubumbashi. Die Stadt liegt in einer rohstoffreichen Gegend und ist besonders für Kupferherstellung bekannt. In den 90ern war Lubumbashi auch Kriegsschauplatz. Seine Heimat dürfte dem Autor den politischen, wirtschaftlichen und menschlichen Stoff für seinen Roman Tram 83 geliefert haben. Es kann demnach vor der Lektüre des Buchs nicht schaden, sich die Geschichte des Kongos in Erinnerung zu rufen: das Land war bis weit ins zwanzigste Jahrhundert kolonialisiert, wechselte mehrmals seinen Namen und nennt sich seit 1997 Demokratische Republik Kongo. Bürgerkrieg, Korruption, Miss- und Günstlingswirtschaft prägen das Land, das sich zwar demokratisch nennt, seine Bürger aber nicht wirklich teilhaben lässt. „Stabil ist im Kongo nur die Krise“, heisst es in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ aus dem Jahr 2017.

Zum Buch: Tram 83 ist der Name einer Bar. Sie liegt im Umfeld des Bahnhofs von Stadtland, einem fiktionalen, desaströsen Stadtstaat, irgendwo in Schwarzafrika. Zitat aus Tram 83: „Stadtland gehört zu den Gebieten, die das stille Leiden schon hinter sich gelassen haben.“ Stadtland lebt von seinen Minen, das heisst, einige leben sehr gut davon, die anderen schauen, dass sie auch ein Stück vom Kuchen abbekommen. Die Mittel dazu sind nicht zimperlich. In der Bar treffen sich des Nachts verkommene Glücksritter, gewaltsame Glücklose und allerlei „verirrte Existenzen“. Eine herbe Mischung von ausbeuterischen Weissen, schweiss- und alkoholgetränkten Minenarbeitern, Prostituierte – abschätzig Single-Mamis oder Küken genannt – auf der Suche nach einem, der ihnen ein Hundespiesschen offeriert, Waffenhändler, Wegelagerer, abtrünnige Rebellen und ehemalige Kindersoldaten. Mitten in dieser Gemengelage bewegen sich Requiem und Lucien. Requiem, dem die Illusionen und der Glaube an eine Zukunft abhanden gekommen sind, hat immer irgendwelche krummen Geschäfte am Laufen; Lucien wäre gerne Schriftsteller; doch wer braucht bei den Zuständen schon einen Schriftsteller. Lucien lernt eines Nachts im Tram 83 einen Schweizer „Verleger“ kennenl. Ein Glücksfall?

Was fesselt eine Leserin wie mich, die ich zuweilen Mühe bekunde, mich einer solch gnadenlosen Realität zu stellen, an Tram 83? Mujila hat so etwas wie ein Gesamtkunstwerk aus Schauplatz, Figuren, Nach-mir-die-Sintflut-Stimmung, Worten und Rhythmus geschaffen. Symbol für die beschriebenen Zustände bildet das Skelett eines Bahnhofs, Fixpunkt in einer Stadt, die diesen Namen kaum verdient. Rings um das Gebäude strömen Tag und Nacht Menschen, Zombies mehr, „auf der Suche nach dem billigen Glück“. Beim Bahnhof diese Bar, eine schwarze Höhle, in der Jazz gespielt wird, „die Musik der Bourgeoisie der letzten Stunde“. Requiem und Lucien, einst Freunde, könnten unterschiedlicher nicht sein. Der eine abgebrüht, der andere ein hilfloser (Alb)Träumer. So hart das Leben in dieser Stadt, die „mit Hilfe von Kalaschnikows zum Staat geworden ist“, so erbarmungslos trommelt Mujila seine Worte, rhythmisiert, wiederholt, kehrt immer wieder zum schrillen Ausgangsthema zurück, beschönigt nichts. Es sind Satze wie „Unschuld ist nichts als Feigheit“ oder „Jeder für sich und Scheisse für alle“ und das ewige „Was sagt die Uhr“ der sich prostituierenden Mädchen, die sich einem ins Gehirn hämmern.

Harter Lesestoff, fürwahr, aber einer, den man nicht so schnell vergessen wird.

Was einem als Frau besonders weh tut: Das Frauenbild, das in Tram 83 – im Staccato – vermittelt wird, ist grauenhaft und deprimierend! Es wäre dem Schriftsteller gut angestanden, die Frau in dieser Welt aus Testosteron und Machtgehabe auch einmal als denkendes, fühlendes Menschenwesen darzustellen, anstatt sie nur als beliebig austauschbare Massenware auf- und abtreten zu lassen. Sind es nicht die Frauen, die in schwierigen Situationen den Hauptteil der Last tragen und den Karren am Laufen halten?  Das wird in Afrika nicht anders sein als anderswo. Gerade von Schriftstellern erwarte ich, dass sie männerdominierte Gesellschaftent an ein gleichwertiges Frau-Mann-Bild heranführen. Da genügt es mir nicht, wen der ernüchternde Ist-Zustand zwar krass dargestellt wird, aber kein Gegengewicht dazu geschaffen wird. Gesellschaftliche, auch politische Veränderungen passieren erst, wenn Frauen als vollwertige Menschen anerkannt sind. Ich hoffe jedenfalls, dass Mujila das Thema in einem nächsten Buch noch anders aufgreifen und darstellen wird.

Titel: Tram 83, Roman, aus dem Französischen von Katharina Meyer und Lena Müller, Taschenbuch, 207 Seiten

Autor: Fiston Mwanza Mujila

Verlag: Unionsverlag, www.unionsverlag.com, ISBN 9783293 208032 Fr. 19.50/Euro 12.95

Kurzbewertung: Ein höchst eigenwilliger, eigenständiger Text über die Lebenssituation in einer schwarzafrikanischen Minenstadt, wo jeder mit allen Mitteln sein Glück machen möchte. Kompromisslos der Blick und die Wortwahl, rhythmisch die Sprache.

Für wen: Nichts für Out-of-Africa-Romantiker. Mujila zeigt ein anderes Afrika: das der Schürfer, Kindersoldaten, Glücksritter aller Couleurs, Huren, Zuhälter, Säufer, Jazzmusiker, Hundefänger und anderer Nachtschwärmer. Ein Blick auf das, was korrupte Politiker und Günstlingswirtschaft für ein Land und seine Bevölkerung bedeuten. Angesichts der heutigen politischen Lage in Europa kann das Buch auch durchaus als Lehrstück genommen werden, wohin ein Land driftet, das von innen heraus politisch und wirtschaftlich geschwächt wird. Rücksichtslose Nutzniesser sind in solchen Situationen schnell aus ihren Rattenlöchern gekrochen.