Wo sind die Unschuldslämmer geblieben?

Kürzlich habe ich gelesen, es sei fürs eigene Glück von Vorteil, immer wenn sich bei einer Sache der innere Kritiker nörgelnd meldet, sich diese Frage zu stellen: Wenn mir diese Sache gefallen würde, was genau würde mir daran gefallen? 

Ich habe ein Buch vor mir liegen, das meinen inneren Kritiker zu Nörgel-Höchstleistungen herausgefordert hat. Grund also, obige Strategie zu Rate zu ziehen. Zu erwähnen wäre, dass der Titel den Schweizer Literaturpreis 2021 gewonnen hat, was meinen inneren Kritiker aber gleichgültig lässt.

Ich spreche von Benjamin von Wyls Hyäne, Eine Erlösungsfantasie

Die Geschichte spielt zur Hauptsache in einer Stadt: sagen wir mal, es könnte Zürich sein. Drei Menschen steuern hier herum: Ein Unternehmensberater, ständig auf Droge, der seine Energie daraus zieht, alles und jeden zu verachten und möglichst viel Schaden in den beratenen Unternehmen anzurichten. Eine junge Frau, die ihr Studium nicht abgeschlossen hat, sich mit Jobs über Wasser hält und sich mit einem schwierigen Bruder und juckender Haut herumplagt. Eine andere junge Frau im Protestmodus gegen die Konsumgesellschaft, die nachts die Lebensmittelabteilung von Kaufhäusern verwüstet. 

Gefallen an diesem Roman hat mir: 

Die Art und Weise wie hier Individuen unserer Gesellschaft geschildert werden: als würde der Mensch sich ständig durch eine Kamera selbst beobachten. Der heutige Mensch als Selbstoptimierer, dessen stärkster Kritiker er selber ist. 

Der Autor hüpft in seinem Roman von einer Person auf die nächste, was die Unstetigkeit und Unruhe unterstreicht, die ja wohl auch der heutigen Gesellschaft entspricht.

Der Text hat einen geradezu unheimlichen Drive. Das entspricht dem Gefühl, das einen an der Züricher Bahnhofstrasse überkommt: überrannt zu werden. Von denen, die ihr Leben im Griff haben, von der Technik, von den Anforderungen, die an jeder Ecke an einen gestellt werden, von der eigenen Unlust auf das alles

Wo ich meine liebe Mühe hatte:

Die drei Hauptfiguren erzählen stets in der Du-Form von sich und dies auch noch in einer Sprache, die es schwer macht, sie voneinander zu unterscheiden. Immerhin ist das Schriftbild bei jeder Figur anders, so dass man nach einer Weile den Dreh beim Lesen draushat. 

Als Du von sich selber zu sprechen, verstärkt den Eindruck der Selbst-Entfremdung. Doch zumindest für die Figur des narzisstischen Firmenberaters hätte ich eher ein grosses Ich erwartet. 

Viele Textstellen erschliessen sich mir einfach nicht. Sei es, weil mich die Phantasie des Autors entweder verwirrt oder nicht mitnimmt, sei es der vielen Brocken Englisch wegen oder einer Sprache, die wohl besonders „in“ klingen soll. Was zum Beispiel ist ein Slopestyle-Leben? Musste ich nachschauen: ein Leben auf der Überholspur. Und was muss man sich unter einer Sexuelle-Belästigung-Panda-Party vorstellen? 

Mein Fazit: Wohl kein Buch für mich.

Titel: Hyäne, eine Erlösungsfantasie, Roman, gebunden, 198 Seiten

Autor: Benjamin von Wyl 

Verlag: lector books, 2020

ISBN 978-3-906913-23-0, Fr. 26.-

Kurzbeschrieb/-bewertung: Eine etwas verwirrende Geschichte, die wohl in eine Zeit passt, in der alles ein bisschen „zunderobsi“ ist, hoffnungslos und feindlich. Drei Menschen schlagen sich durch den Städtedschungel auf der Suche nach Man-Weiss-nicht-was. Am Ende schlägt die Natur zu, was dann die versprochene Erlösung sein soll. Die hingegen ist so verwirrend wie der der Rest des Romans. 

Für wen: Hochrisiko-LeserInnen, Überlebenskünstler, Fantasie-Phantasten.

Ein wenig von mir, und vieles von anderen

Heute möchte ich euch auf vier Neuerscheinungen aufmerksam machen, die mir am Herzen liegen, sei es, weil ich die AutorInnen oder HerausgeberInnen kenne oder selbst irgendwie an dem Werk beteiligt bin. 

Zuerst natürlich die soeben erschienene orte-Poesieagenda fürs kommende Jahr. 

Wir sind zwar erst gut in der Hälfte des Jahres 2020, nur so richtig „normal“ fühlt es sich bei mir immer noch nicht an. Ich bin wahrscheinlich nicht allein mit meinem Gefühl von „zwischen Stuhl und Bank“ hängen und warten, dass sich die Lage allenthalben entspannt. 2021 also, spätestens dann könnte, sollte, müsste alles oder fast alles wieder seinen Gang nehmen, ohne dass gleich Regenwälder abgeholzt, Menschen beleidigt oder wahnsinnsintelligente Sprüche skandiert werden à la „Sterben muss jeder mal“. Das orte-Agenda 2021-Titelblatt zeigt – und das dürfte purer Zufall sein – ineinandergestellte weisse Plastikstühle unter einem strahlendblauen Himmel, ein Bild das uns im kommenden Jahr noch an diesen irren Frühling und Sommer erinnern dürfte, sollte, müsste. Im Inneren des Büchleins sind wieder zahlreiche Gedichte versammelt von berühmten und weniger bekannten PoetInnen, Bilder, Sinnsprüche, Cartoons. Ich verspreche euch: Die Agenda wird euch ein freundlicher, anregender, tröstlicher Begleiter durch das kommende Jahr sein. Zum Beispiel dieses Gedicht von Markus Waldvogel, das genau heute in einem Jahr still in den Tag einstimmen wird:

Sollen Stimmungen

vermittelt werden

stehen die Wörter Kopf

Auch an den Nervenenden

wird nicht gesprochen

nicht einmal

während des Sonnenuntergangs

Die orte-Poesieagenda ist zu kaufen bei www.orteverlag.ch, ISBN 9783-858-302-656. Sie kann aber auch in jedem Buchladen bestellt werden, der etwas auf sich hält. Herausgeberinnen des kleinen Wunderwerks sind Susanne Mathies und ich. Von uns beiden sind übrigens auch Gedichte und Bilder drin.

Nochmals um Gedichte geht es in einem Büchlein von Thomas Heckendorn.

DANKEUNDAUFWÜRDESEHN.

So lautet der augenzwinkernde und dennoch ernste Titel des kleinen Werkes, der die Texte im Inneren wunderschön widerspiegelt.

Thomas Heckendorn macht es seinen Lesern nicht gerade leicht, wenn er seine Gedichte alle in Versalbuchstaben und ohne Wortabstände schreibt. Aber wie ich ihn kenne, wird es ihm ein Vergnügen sein, seinen LeserInnen etwas Gedankenarbeit und -spiel abzuverlangen. Macht auch Spass, denn des öfteren ergibt sich beim neuen Verbinden der Silben ungeahnt Neues. Auch hier ein kleines Beispiel.

ECCE.DAS

GEHWESEN.

DIEWEHENDESGEHENS.

SCHLEIERWERDENGELEGT

ANHELLENSTRÄNDEN

DANKEUNDAUFWÜRDESEHN ist im Caracol-Verlag, Warth, erschienen und kann dort (caracol-verlag.ch) bezogen werden. ISBN 978-3-907296-03-5.

Axel Kutsch hat wiederum keine Mühen gescheut und Versnetze-13 herausgebracht, wie alle Versnetze-Bände der letzten Jahre eine vielschichtige Sammlung von Gedichten, verfasst von Gegenwarts-AutorInnen. Die meisten der in dieser Anthologie vertretenen Dichterinnen und Dichter stammen aus Deutschland, doch auch Österreich, die Schweiz und sogar Frankreich, die Niederlande, Finnland und USA sind dabei. Bekannte Namen folgen auf unbekannte, noch nie gehörte. Es gibt eben gerade auch in der Dichterszene die stillen Wasser, die murmelnden Bächlein und schäumende Wasserfälle. Besser, ich lasse jetzt die pseudopoetischen Vergleiche und komme zum Wesentlichen zurück. 

Kutsch legt bei der Zusammenstellung seiner Bände Wert auf „ein weites Feld unterschiedlicher Schreibweisen der heutigen Lyrik … Das gilt für ,abgefahrene’ experimentelle ebenso wie für konventionell ausgerichtete Texte …“ (Zitat aus einem Interview von Anton Mai).

Auch ich bin mit einem Gedicht in Versnetze_13 vertreten, was mich ungeheuer freut. Ich werde euch jetzt aber nicht mit einem Gedicht von mir beglücken, auch wenn die Versuchung da ist, vom stillen Wasser zum tosenden Wasserfall zu wechseln.

Wer einen aktuellen Überblick über das zeitgenössische Gedichtschaffen im deutschen Sprachraum sucht, ist mit Axel Kutschs Versnetzen bestens ausgerüstet. Das Buch ist im Verlag Ralf Liebe, Weilerswist, erhältlich. ISBN 978-3-948682-02-6 , www.verlag-ralf-liebe.de.

In meiner vierten Empfehlung geht es noch einmal um ein Buch, in dem ich als Autorin vertreten bin. Es handelt sich um eine Kurzgeschichten-Anthologie des in Zürich beheimateten litac-Verlags. Litac gibt „spannende Literatur für Anspruchsvolle“ heraus. Die Kurzgeschichtenanthologie Schatten ist neben  In der Tiefe und Monstrum die dritte in der „Unterirdischen Reihe“.  35 Geschichten setzen sich auseinander mit Licht und seinem unheimlichen, manchmal muffigen, manchmal moosgrünen Gegenstück, dem Schatten. 

Die Vorstellung diese Buches findet am 3. September 19.30 Uhr im GZ-Buchegg-Spiegelsaal in Zürich statt. Nichts wie hin also – und nehmt eure Schatten mit.

Zu beziehen ist das Buch bei litac-Verlag, Zürich, oder im Buchhandel, ISBN 9-783-952-484-937 

Wer macht am Ende das Licht aus?

Der deutsche Weltraumfahrer Frank Brandt und seine drei amerikanischen Kollegen Green, Miller und Cocksfield sind mit erschütternden Erkenntnissen von einer Mars-Expedition zurückgekehrt. Doch statt einem Empfang mit Pauken und Trompeten erwartet sie die totale Isolierung. Nichts, was sie auf dem Mars gefunden haben, darf an die Öffentlichkeit. Die internationale Sicherheit sei in Gefahr, sagen die, die das Sagen haben.

Die Ausgangslage, die Jürgen Lodemann in seinem Roman Mars an Erde zeichnet, mag eine fiktionale sein. Doch sitzen wir nicht gerade heute in unseren Wohnungen, isoliert, angewiesen auf die Nachrichten. Nachrichten, die uns verwirren, hinter denen wir Ungesagtes vermuten. Nachrichten, die uns täglich mit neuen Massnahmen konfrontieren, als wäre es nötig, uns die „Wahrheit“ in homöopathischen Dosen zu verabreichen. Und nicht nur das: Wir leben auf einem Erdball, mit dem es bachab geht, und zwar auf mehreren Ebenen. Einer Welt, in welcher die Gretas dieser Erde, die uns aufrütteln wollen, verunglimpft und kleingeredet werden. Eine Welt, in der viel geschwafelt wird, Kommunikation kaum mehr als ein Wort ist.

Und in diese surreale Realität oder reale Phantasie, wie es Jürgen Lodemann wohl nennen würde, platzt nun sein Roman mit dem Titel Mars an Erde. Aufgebaut ist die Story um Frank Brandt, dem die Flucht aus der amerikanischen Verwahrung gelungen ist und der nun einem Journalisten in Form eines Interviews erzählt, was ihm widerfahren ist.

Es sind wahre Abgründe, die sich den vier Astronauten auftun. Sie wurden auf der Erde auf vieles hin trainiert, doch was ihnen der Kriegsplanet über seine Vergangenheit verrät, ist kaum fass- und noch weniger ertragbar. Da ist die absolute Stille des roten Planeten und das unheimliche Auftauchen und Verschwinden der beiden Marsmonde Phobos und Deimos. Da sind die sich in die Höhe schraubenden rötlichen Staubschwaden, die lebensfeindliche Atmosphäre. Oder die verstörenden Vergleiche mit dem Schwarzwald, die Brandt beim Betrachten der schrundigen Marsoberfläche zieht. Aber wirklich unheimlich ist das, was die Astronauten in Inneren des Planeten finden, dessen „Rot nichts von Liebe weiss, aber alles vom Krieg“.

Noch selten habe ich einen eindringlicheren, beklemmenderen Roman gelesen. Seltsamerweise hatte ich kaum je den Eindruck, es mit Science Fiction zu tun zu haben, vielmehr schafft es der Autor, drängende Wirklichkeit zu vermitteln. Das mag daran liegen, dass die Story in der Jetzt-Zeit spielt: mit einem zu allem fähigen Egozentriker an der Spitze einer Weltmacht, allgegenwärtigem Nationalismus, widerwärtiger Geldgier und Machthunger, einer vermüllten Umwelt und keinem Plan B. 

Zitat Brandt: „Weltweit fehlt uns ein Wir. Die Gewissheit vom gemeinsamen Boot.“

Jürgen Lodemanns Roman ist ein mahnendes Werk, ein Wurf, der genau zum richtigen Zeitpunkt kommt: klug, kritisch, spannend, poetisch, bereichert mit weitsichtigen Zitaten. Eine Warnung, die sich jeder zu Herzen nehmen sollte. Denn nach Überwindung der viralen Katastrophe drängt ein blauer Planet darauf, von uns gerettet zu werden.

Titel: Mars an Erde, Roman, 258 Seiten, gebunden

Autor: Jürgen Lodemann

Verlag: Klöpfer, Narr, 2020, http://www.kloepfer-narr.de/mars-an-erde/

ISBN 978-3-7496-1022-8 

Fr. 36.90/Euro 25.–

Kurzbeschrieb/-bewertung: Science fiction, die so real daherkommt, dass es einen schüttelt. Science fiction, die von der Zukunft des blauen Planeten spricht und dem jetzigen Zustand der ach so intelligenten Menschheit. Literatur die einschlägt. Rechnen Sie mit einem tiefen Lesekrater.

Für wen: Das geht jetzt einfach alle an.