Ein Grübler verpasst sein Leben

Kürzlich habe ich in einem Interview gelesen, ein Buch, das nicht schon auf der ersten Seite mit einem Dialog aufwarte, könne man gleich zur Seite legen. Solche als Gewissheiten daherkommenden Sätze machen mich misstrauisch. Nach der Lektüre von Dag Solstads T. Singer bin ich nun ganz sicher: Dieser Ratschlag taugt nichts. Denn gibt es nichts Schöneres als einen Roman zu lesen, dessen Handlung und schriftstellerische Umsetzung eine in sich geschlossene Einheit bilden? 

Genau das ist Dag Solstad mit T. Singer gelungen. Auf Dialoge verzichtet der Roman beinahe vollständig. Es kommen genau zwei Gespräche im gesamten Buch vor: Das eine ist ein Selbstgespräch der Hauptfigur T. Singer (der Vornamen erfährt der Leser nicht) mit einem imaginären Freund; das zweite findet mit einer Zufallsbegegnung statt und ist weniger ein Dialog, als ein Monolog über das Billige und das Glück.

Doch ich sehe schon, langsam wird es Zeit, etwas über den Inhalt der Geschichte zu erzählen: T. Singer ist ein rückgratloser Grübler und einer, der ständig als Beobachter neben sich steht. Er ist „ein identitätsloser Lebensverleugner, ein ganz und gar negativer Geist … ein unpraktischer Vagabund auf der Landstrasse des Lebens. Er ist umgänglich, doch hat er keine Ziele, es sei denn, keinesfalls in peinliche Situationen zu geraten und nirgends aufzufallen. Er zieht als Bibliothekar nach Notodden, heiratet dort Merete, die eine kleine Tochter in die Ehe bringt. Doch dann verunfallt Merete; Singer sieht sich einer Herausforderung ausgesetzt, denn seine Stieftochter begegnet ihm mit einer Indifferenz, die seine eigene zurückwirft. 

Der Roman beginnt mit einer seitenlangen Einführung über Singers über alle Massen grosse Schamhaftigkeit. Der Autor dreht dieses Problem Singers so lange, dass man sich alsbald in einem Spiegelkabinett fühlt und einem leicht schwindelig wird. Jedoch genau mit dieser Darstellungsweise führt Solstad den Leser in die Denkweise Singers ein. Wer es denn nun genau ist, der Singer und sein Problem beobachtet und beschreibt, wird vorerst nicht klar: der Autor oder eventuell Singer selbst, der selbst einmal von sich als Schriftsteller tagträumte? Ein Aussenstehender?

T. Singer ist als Figur so bedeutungslos, so „inkognito“, dass sich selbst der Autor scherzhaft selber wundert, wie er es zu einer Hauptfigur in einem Roman geschafft hat. Doch gerade in Singers Kleinheit erkennen wir uns selbst. Und so wie Singers Tage dahinschwinden, ohne dass er wüsste wohin, noch ob er sie vermissen sollte, so ergeht es wohl zeitweise den meisten von uns.

Titel: T. Singer, Roman, 284 Seiten, gebunden

Autorin: Dag Solstad

Deutsche Erstübersetzung. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger

Verlag: Dörlemann-Verlag, 2019, http://www.doerlemann.com

ISBN 978-3-03820-065-9, Euro 22.–/ Fr. 30.–

Kurzbeschrieb: Die Geschichte eines Mannes namens Singer, der sich in seinem Leben mittels Selbstbeobachtung, Selbstwahrnehmung, Selbstkontrolle selber schachmatt setzt, unterlegt mit leisem Spott.

Für wen: Für Grübler aller Arten.

Wild entschlossene Stalkerin trifft nicht ganz sauberen Therapeuten

In Silke Knäppers Roman Das Lieben der anderen treffen zwei problematische Persönlichkeiten aufeinander. Auf der einen Seite haben wir Psychotherapeut Simon, der es mit der Trennung von Liebe und Beruf nicht so genau nimmt und überhaupt bei schönen Frauen gerne schwach wird. Ihm gegenüber steht die Kleinkinderzieherin Helen, die an einer ausgewachsenen Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet, klug taktiert, agiert und vor nichts zurückschreckt.

Helen und Simon sind einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, nachdem Simons Frau Claire eines Nachts vom Balkon fällt, direkt vor Helens Füsse. Weder Helen noch Simon reagieren, wie man es erwarten würde: Keiner von beiden ruft Polizei oder Krankenwagen. Helen sieht ihre Chance gekommen. Nichts wünscht sich die blasse Frau mehr, als aus ihrem tristen Leben auszusteigen. Bisher gab es keinen Mann, der nicht vor ihr geflohen wäre. Doch wenn sie nun Claires Leben „übernehmen“ würde, an der Seite von Simon, dann würde alles gut werden. Doch in Simons Leben ist kein Platz für Helen, auch wenn er als Psychologe eine kleine Schwäche für angeknackste weibliche Seelen hat.

Einer der Leitsätze für Geschichtenschreiber lautet: Der Leser sollte eine der Hauptfiguren eines Romans lieb gewinnen, „mit ihr gehen“. Doch in „Das Lieben der anderen“ möchte ich weder Helen begegnen und schon gar nicht mit ihr befreundet sein, noch möchte ich je in die Praxis eines Simon Prohaska als Patientin eintreten. Dass ein Ehemann einfach an der Leiche seiner vom Balkon gefallenen Frau vorbeispaziert, um sich ein paar Drinks zu genehmigen, scheint ungeheuerlich und wird noch ungeheuerlicher, wenn man im Laufe der Geschichte erfährt, weshalb er das tat.

Also: Was das Liebgewinnen der Hauptfiguren anbelangt, lässt mich Silke Knäpper ganz schön ins Leere laufen. Dennoch und erstaunlicherweise funktioniert diese Geschichte. Zum einen ist sie einfach gut geschrieben, zum anderen wird sie von einem solide aufgebauten Spannungsbogen getragen. Immer mehr werden die Seelenk(r)ämpfe von Helen und Simon enthüllt. Gegen Ende unterläuft Silke Knäpper noch einmal die Erwartungen. Meine Annahme war, diese Geschichte ende in einem brutalen Showdown mit ganz üblem Ausgang. Ganz so schlimm ist es dann doch nicht gekommen. Schlimm genug, denn sowohl Simon als auch Helen stecken weiterhin in ihren Leben fest.

Titel: Das Lieben der anderen, Roman, 316 Seiten, gebunden

Autorin: Silke Knäpper

Verlag: Klöpfer&Meyer, 2018, https://www.kloepfer-meyer.de

ISBN 978 3 86351 4747, Euro 22.–/Fr. 32.90

Kurzbewertung: Hier tun sich seelische Abgründe auf. Ganz und gar romantikfrei. Dafür mit Krimi-Spannung und jeder Menge Freud.

Für wen: Wer schon immer mal jemanden stalken wollte, findet hier eine patente Anleitung. (Am besten abwarten, bis einem eine Tote vor die Füsse fällt!)

 

 

 

Vom Plantagenjungen zum Salonvirtuosen: eine Karriere zu Zeiten Louis XVI.

In der oft gespielten Musik der Klassik gilt er als Randfigur: Joseph Boulogne, Chevalier de Saint-George. Das mag zum einen an Komponisten wie Mozart oder Haydn liegen, die das Feld dominieren. Sicherlich spielt aber auch die Hautfarbe des Chevaliers mit dem Vergessen seiner Kompositioneneine Rolle: Der Chevalier war Mulatte. Seine Mutter war die schwarze Sklavin Nanon, sein Vater der französische Gutsbesitzer George de Boulogne de Saint-George.

Über die musikalischen Qualitäten des „schwarzen Mozarts“ masse ich mir kein Urteil an; ob es sich um ein verkanntes musikalisches Genie handelt oder um einen gefällig komponierenden Mitläufer – darüber sollen Fachleute streiten. Jedenfalls war Joseph Boulogne zu Lebzeiten ein anerkannter Geiger, Komponist und Dirigent.

Ob nun genial oder nicht: Das wechselhafte Leben des Chevaliers ist zweifellos jener Stoff, aus dem Romane und Filme gemacht werden. Und anscheinend weist die Faktenlage über sein Leben genügend Lücken auf, die die Phantasie reizen.

Der niederländische Schriftsteller Jan Jacobs Mulder ist einer, der sich locken liess und der in seinem Buch Joseph, der schwarze Mozart in die Geschichte Frankreichs vor und während der Revolution eingetaucht ist. Joseph de Boulogne (geboren 1745, gestorben 1799) hat diese Zeit der grossen Umbrüche nicht nur miterlebt, sondern aktiv mitgestaltet.

Joseph wuchs behütet auf, wurde zu Zeiten von Louis XV und Louis XVI mit Ehren und hohen Ämtern bedacht, war verwöhnt und ohne Sorgen materieller Art. Er besass gleich mehrere Talente. Zum einen brillierte er als Fechter, zum anderen als Geiger, Dirigent und Komponist. Die Erfolge blieben nicht aus. Wie alle erfolgreichen Menschen bekam er aber auch Neid und Gegenwind zu spüren. Zu den persönlichen Problemen, die sich aus seiner für damalige Pariser Verhältnisse ungewöhnlichen Hautfarbe ergaben, kamen politische und gesellschaftliche Umwälzungen. Da war eine Monarchie, die die Zeichen nicht erkennen wollte, und auf der Gegenseite eine aufgebrachte Bevölkerung. Aufklärerisches Gedankengut schwirrte in den Köpfen umher. Die Revolution nahm ihren verhängnisvollen Lauf. Joseph de Boulogne trat in den Kampf ein. Und setzte sich mit all seinen Mitteln für die Befreiung der Sklaven ein.

Wir begegnen der Romanfigur Joseph erstmals 1799, kurz vor seinem Tod. Er liegt mit Wundbrand im Bett, gepeinigt von Schmerzen. Er erinnert sich an seine ersten glücklichen Lebensjahre in Guadeloupe, an die Überfahrt nach Frankreich, seine Jugendjahre, in denen er eine Fechtschule besuchte, bedeutende Musiker kennenlernte, dann an seine Abenteuer als junger Mann, an Fechtkämpfe, die ihn bis nach England führten, an seine Vergnügungen und Verwicklungen mit der High Society der damaligen Zeit. Ein Leben, in dem es nicht mangelte an Triumphen, Kämpfen, spannenden Menschen und eitlen Freuden. Doch immer dabei ist die Frage nach der Hautfarbe. Ein Mulatte, der sich in höchsten Kreisen bewegt, war nicht nur exotisch, sondern auch ein Ärgernis. Jan Jacobs Mulder stellt Joseph als Menschen dar, den stets eine innere Unrast vor sich hertreibt. Er ist immer der Exote, der Mann, der alles besser oder verrückter machen muss als alle anderen. Ein Mensch auf der ständigen Suche nach Anerkennung.

Beim Lesen des Romans tauchte bei mir öfter störend die Frage nach der Erzählform des Romans auf. War es eine geschickte Wahl des Autors, den Protagonisten selber erzählen zu lassen, zumal der Romanheld den Tod erwartend im Bett liegt? Ist ein mit akutem Wundbrand (Fäulnis, sich ablösende Hautpartien, Schmerzen etc.) und ohne Behandlung dahinsiechender Patient wirklich noch fähig, sich sein Leben wohlgeordnet durch den Kopf gehen zu lassen, wie es uns die Geschichte weismachen möchte? Ich zweifle daran, lasse mich aber gerne von einer medizinisch versierten Fachperson belehren.

Ich habe in meinen – allerdings oberflächlichen – Nachforschungen auch nirgends die Bestätigung gefunden, dass Joseph einer Kriegsverletzung, die er sich in der Karibik zugezogen haben soll, erlegen ist. Vielmehr soll er zwei Jahre nach seiner Rückkehr nach Paris im Alter von 54 Jahren gestorben sein. Ein Problem, das bei historischen Romanen immer mal wieder auftaucht: Wo fängt die dichterische Freiheit an und wo wären die Fakten wichtiger?

Einmal abgesehen davon: Joseph, der schwarze Mozart lässt einen eintauchen in Jahre voller Wirren, Schrecknisse und Gewalt. Aber wir erhaschen auch ungewohnte Einblicke in freizügige Salons, in denen offen über alles diskutiert wird. Oder wir besuchen Fechtschulen, die Fitnessstudios des 18. Jahrhunderts. Ein Roman auch, bei dem vorab die Frauen gut wegkommen: Die weiblichen Figuren sind durchwegs liebevoll, frei von Dünkel, offen und mutig dargestellt.

 

Titel: Joseph, Der schwarze Mozart, Roman

Autor: Jan Jacobs Mulder, aus dem Niederländischen von Ulrich Faure

Verlag: Unionsverlag, Zürich, 2018, http://www.unionsverlag.com

ISBN 9783293005358

Kurzbewertung: Joseph Boulogne, Chevalier de Saint-George, ist musikalisch talentiert, überaus sportlich, risikobereit, begehrenswert und bewegt sich scheinbar mühelos in Pariser Adelskreisen. Er hat nur ein Handicap: er ist Mulatte. Auf seinem Totenbett denkt er über sein Leben nach. Ein spannender Roman über einen Pariser Haudegen und ein Ausnahmetalent zur Zeit vor und während der Französischen Revolution.

Für wen: Schon einmal etwas gehört von einem französischen Frühklassiker mit schwarzer Hautfarbe, der sogar Mozart inspiriert haben soll und Kontakt zu Haydn hatte?  Oder etwas vernommen von einem Mulatten, der gegen Prinzen und sogar eine Dame Fechtkämpfe ausführte oder zum Gaudi der Pariser durch die Seine-Kloake schwamm? Nein? Dann wird es höchste Zeit dafür?

 

 

Auf einen Sockel gehoben und wieder runtergeholt: Emanuel Stickelberger VII.

Nach einer kleineren aufgezwungenen Lese-Auszeit, die mich bis jetzt glücklicherweise keine Leser gekostet hat (uff), bin ich wieder zurück im Blog. Diesmal mit einer vergnüglich zu lesenden Biographie, die sich allerdings als Roman tarnt oder vice versa: Mein fast grosser Grossvater von Jacob Stickelberger. Ein überaus gelungener Titel, finde ich.

Mit dem Berühmtwerden und -bleiben ist es so eine Sache. Neben einer gekonnten Imagepflege sowie guten Kontakten gehören nicht nur eine Portion Glück dazu, sondern auch die richtige Idee zur richtigen Zeit am rechten Ort.  So kann das Werk des Berühmt-Sein-Wollenden auf den Wellen der Zeit reiten und wird im besten Fall von ihnen hierhin und dorthin geschaukelt. Eine Sichtweise, die Emanuel Stickelberger sicher nicht mit mir geteilt hätte.  Sich der Moderne oder so etwas Profanem wie dem Zeitgeist anzupassen, kam für den Schweizer Unternehmer und Schriftsteller Stickelberger (geb. 1884) nicht in Frage, will man seinem Enkel Glauben schenken.

Jacob Stickelberger, der Autor von Mein fast grosser Grossvaterist einer, der von Berühmtheit sicher einiges zu erzählen weiss, ist er selber doch einer der Berner Troubadours. In seinem Buch beschreibt er allerdings nicht seine eigenen Erfolge, vielmehr ist sein Buch dem Grossvater gewidmet, eben jenem Emanuel Stickelberger. Stets liebevoll, manchmal kritisch und vor allem augenzwinkernd erinnert er sich an seinen Opapa, einen Familien-Patriarchen aus der ersten Hälfte des 20igsten Jahrhunderts, wie man ihn sich nicht prachtvoller vorstellen könnte. Und so sehen wir auch auf dem Buchumschlag einen distinguierten, beschnauzten, gescheitelten Herrn mit Zigarre in der Rechten, einer Zeitung auf den Knien in einer bis unter die Decke mit Schmöckern ausgestatteten Bibliothek sitzen. Soviel zur sorgfältigen Pflege des Images.

Schriftstellerisch war der Zigarren schmauchende und belesene Opapa vor allem in der Vergangenheit unterwegs: Ihn interessierten Figuren wie Zwingli, Calvin oder Hans Waldmann. Das schriftstellerische Werk Stickelbergerges ist umfangreich und fast durchwegs rückwärtsgewandt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem Blick auf eine Zukunft in Frieden und Harmonie, hätten aber nur noch wenige Leser Interesse an historischen Stoffen bekundet, schreibt sein Enkel Jacob Stickelberger. Und so sei denn Emanuel Stickelberger, der in der ersten Hälfte des 20igsten Jahrhunderts durchaus etwas galt, fast vollkommen in Vergessenheit geraten.

Jacob Stickelberger beschreibt in seinen Erinnerungen nicht nur seine eigene Kindheit, sondern gleichfalls das Zusammenspiel innerhalb der grossen Familie, als deren Zentrum und wichtigste Instanz die „Respektsperson“ Emanuel Stickelberger 7. galt: Dieser war ein Mensch mit Ecken und Kanten, manchmal überraschend liebenswürdig, hier und dort eitel, stur oder gar lächerlich, irgendwie aber meist „Herr der Lage“. Dass der Autor seinen Rückblick als Roman bezeichnet, verweist aber deutlich darauf, dass er die Ereignisse rund um seinen Opapa nicht Schwarz auf Weiss, sondern unverkrampft bunt dargestellt hat.

 

Titel: Mein fast grosser Grossvater, Roman, 175 Seiten

Autor: Jacob Stickelberger

Verlag: Zytglogge, 2018, http://www.zytglogge.ch, ISBN 978-3-7296-0995-2

Fr. /Euro 32.–

Kurzbewertung: Familiengeschichte zum Schmunzeln. Gleichzeitig kann man sich seine Gedanken machen über das Zusammenspiel der Kräfte innerhalb eines Clans. Und über die eigene Rolle darin, die vielleicht gar nicht so erhaben ist, wie man meinen möchte.

Für wen: Für alle, denen es im Zusammenhang mit Familie nie zuviel des Guten wird. Für Basler Daig-Schneuggi und jene, die gerne vergessene Schriftsteller ausgraben.

 

 

Flucht ist kein Garant für Glück

Nashim ist krank. Sie wird bald sterben. In Schweden, einem Land, in dem sie jahrzehntelange gelebt und gearbeitet hat. Nashim stammt aus Persien. Sie hat nach der Islamischen Revolution an Protesten teilgenommen. Schlimmer noch: Ihre Schwester ist wegen ihr bei einer Demonstration umgekommen. Nashim muss mit Mann und Tochter Aram fliehen. Nun quält sich Nashim: War es richtig zu fliehen und Aram in der Fremde aufzuziehen?

Was bleibt von uns ist der Roman der schwedischen Autorin Golnaz Hashemzadeh Bonde. Sie schreibt ihren Roman aus der Ich-Perspektive in kurzen, stossweisen Sätzen, als hätte jemand zu wenig Atem, als würde sich jemand nicht getrauen, die Gedanken schweifen zu lassen. Das passt durchaus zu dieser Geschichte, in welcher es um eine tödliche Krankheit geht und um eine Menge unschöner Erinnerungen.

Die schwermütigen Lieder der persischen Sängerin Googoosh spielen innerhalb der Story eine kleine, wenn auch wichtige Nebenrolle. Googoosh selber reiste von Amerika, wo sie sich aufhielt, als 1979 die Revolution ausbrach, in den Iran zurück und wurde als Frau prompt mit einem Auftrittsverbot belegt. Erst nach 2010 kehrte sie auf die Bühne zurück. Somit ist sie das genaue Gegenteil von Nashim: Googoosh hat die Leiden ihres Landes und ihrer Landsleute mitgelebt, -erduldet. Damit wird sie für Nahid zu einer Symbolfigur. Denn Nahid hat sich ein Leben lang gefragt, ob der Preis, den sie für ihre Flucht bezahlt hat, nicht zu gross war. Sie hat ihre Mutter, ihre Schwestern, alles Bekannte zurückgelassen, nur um in Schweden festzustellen, dass es ihr nicht gelingt, dort Wurzeln zu schlagen.

Aus Sicht des Lesers ist die Frage überflüssig: Nashim und ihr Mann hatten nur die Wahl zwischen Tod und Flucht. „Ich glaube, der Tod war immer bei mir“, stellt Nashim denn auch gleich zu Beginn des Buches fest. Es ist eine Binsenwahrheit, dass wir unsere Probleme überallhin mitschleppen. Bei Nashim ist die Last besonders gross. Sie fühlt sich schuldig am Tod ihrer Schwester Noora. Auch hat sie aus Angst vor der Folter Freunde verraten. Über diesen schwachen Moment in ihrem Leben schweigt sie sich aus. Die Beziehung zu ihrem Mann ist durch die Geschehnisse belastet und zum Scheitern verurteilt.

Die krebskranke Nashim hadert mit ihrem Schicksal. In der Beschreibung der Verzweiflung der Todkranken, die sich in ihrem Gefühlschaos verheddert, liegen die Stärken dieses Buches. Nahim schwankt zwischen sämtlichen Extremen: Sie ist hilflos und zornig, weinerlich und anklagend, gleichgültig und verbissen. Und dazwischen taucht immer wieder die Frage auf, weshalb es ihr nicht gelingen wollte, ein glückliches Leben zu führen.

Für meinen Geschmack schneidet der Roman etwas gar viele Themen an: Gewalt gegen Frauen, die Islamische Revolution und in deren Gefolge Folter, Verrat, Flucht etc. Dazu kommen der Verlust des Gefühls, zu Hause zu sein, der Eindruck, auf allen Linien versagt zu haben, eine tödliche Krebserkrankung sowie das Abschiednehmen vom eigenen Leben. Dieser Fülle an Themen, von denen jedes an sich schon buchfüllend wäre, kann die Autorin auf 219 Seiten natürlich nicht gerecht werden.

 

Titel: Was bleibt von uns, Roman, aus dem Schwedischen von Sigrid C. Engeler, gebunden, 219 Seiten

Autorin: Golnaz Hashemzadeh Bonde

Verlag: Nagel & Kimche, Zürich 2018, http://www.nagel-kimche.ch,

ISBN 978 3 312 01089 9, Fr. 29.90/Euro 20.–

Kurzbewertung: Ziemlich glaubhaft und eindrücklich scheint mir dieser Roman dort, wo es um die Gefühlslage von tödlich erkrankten Krebspatienten geht. Einigermassen erhellend auch zu lesen, weshalb es manchen Immigranten nicht gelingen will, nicht gelingen kann, in ihrem Gastland anzukommen.

Für wen: Es handelt sich um eine gefühlig geschriebene Geschichte. Also für alle LeserInnen, die das gerne mögen.

 

„Unschuld ist nichts als Feigheit“ – oder: testosteron-gesteuerte Apocalypse now

Nein, Tram 83 von Fiston Mwanza Mujila ist kein Roman, der es einem leicht macht. Nicht was die Handlung und den Schauplatz anbelangt, nicht, was die Figuren anbelangt, und auch nicht, wenn es darum geht, zu verstehen, wer denn hier überhaupt erzählt. Mal sind wir nahe bei den zwei Hauptfiguren Requiem und Lucien, mal überblicken wir die Situation aus der Vogelperspektive und dann wieder spricht einer, der sich nicht vorstellt, in der Wir-Form. Was chaotisch wirkt, dürfte jedoch vom Autor beabsichtigt sein. Denn es ist eine apokalyptische Szene, die er darstellt, ein Drunter und Drüber aus Menschen, Vergnügungssucht, schnellem Sex, Betrug, Korruption etc., untermalt von Jazz und südamerikanischen Rhythmen. In diesem Setting weiss keiner, wer er mal war, noch was er morgen sein möchte. Eine Weltuntergangsstimmung, in der ein Mann wenig zählt und ein toter Hund mehr wert ist als ein Mädchen.

Bevor ich mich jedoch noch ganz verheddere in dieser Geschichte, erst ein paar Worte zum Autor von Tram 83:

Fiston Mwanza Mujila lebt in Österreich und unterrichtet dort afrikanische Literatur. Er stammt aus dem Kongo, aus der Stadt Lubumbashi. Die Stadt liegt in einer rohstoffreichen Gegend und ist besonders für Kupferherstellung bekannt. In den 90ern war Lubumbashi auch Kriegsschauplatz. Seine Heimat dürfte dem Autor den politischen, wirtschaftlichen und menschlichen Stoff für seinen Roman Tram 83 geliefert haben. Es kann demnach vor der Lektüre des Buchs nicht schaden, sich die Geschichte des Kongos in Erinnerung zu rufen: das Land war bis weit ins zwanzigste Jahrhundert kolonialisiert, wechselte mehrmals seinen Namen und nennt sich seit 1997 Demokratische Republik Kongo. Bürgerkrieg, Korruption, Miss- und Günstlingswirtschaft prägen das Land, das sich zwar demokratisch nennt, seine Bürger aber nicht wirklich teilhaben lässt. „Stabil ist im Kongo nur die Krise“, heisst es in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ aus dem Jahr 2017.

Zum Buch: Tram 83 ist der Name einer Bar. Sie liegt im Umfeld des Bahnhofs von Stadtland, einem fiktionalen, desaströsen Stadtstaat, irgendwo in Schwarzafrika. Zitat aus Tram 83: „Stadtland gehört zu den Gebieten, die das stille Leiden schon hinter sich gelassen haben.“ Stadtland lebt von seinen Minen, das heisst, einige leben sehr gut davon, die anderen schauen, dass sie auch ein Stück vom Kuchen abbekommen. Die Mittel dazu sind nicht zimperlich. In der Bar treffen sich des Nachts verkommene Glücksritter, gewaltsame Glücklose und allerlei „verirrte Existenzen“. Eine herbe Mischung von ausbeuterischen Weissen, schweiss- und alkoholgetränkten Minenarbeitern, Prostituierte – abschätzig Single-Mamis oder Küken genannt – auf der Suche nach einem, der ihnen ein Hundespiesschen offeriert, Waffenhändler, Wegelagerer, abtrünnige Rebellen und ehemalige Kindersoldaten. Mitten in dieser Gemengelage bewegen sich Requiem und Lucien. Requiem, dem die Illusionen und der Glaube an eine Zukunft abhanden gekommen sind, hat immer irgendwelche krummen Geschäfte am Laufen; Lucien wäre gerne Schriftsteller; doch wer braucht bei den Zuständen schon einen Schriftsteller. Lucien lernt eines Nachts im Tram 83 einen Schweizer „Verleger“ kennenl. Ein Glücksfall?

Was fesselt eine Leserin wie mich, die ich zuweilen Mühe bekunde, mich einer solch gnadenlosen Realität zu stellen, an Tram 83? Mujila hat so etwas wie ein Gesamtkunstwerk aus Schauplatz, Figuren, Nach-mir-die-Sintflut-Stimmung, Worten und Rhythmus geschaffen. Symbol für die beschriebenen Zustände bildet das Skelett eines Bahnhofs, Fixpunkt in einer Stadt, die diesen Namen kaum verdient. Rings um das Gebäude strömen Tag und Nacht Menschen, Zombies mehr, „auf der Suche nach dem billigen Glück“. Beim Bahnhof diese Bar, eine schwarze Höhle, in der Jazz gespielt wird, „die Musik der Bourgeoisie der letzten Stunde“. Requiem und Lucien, einst Freunde, könnten unterschiedlicher nicht sein. Der eine abgebrüht, der andere ein hilfloser (Alb)Träumer. So hart das Leben in dieser Stadt, die „mit Hilfe von Kalaschnikows zum Staat geworden ist“, so erbarmungslos trommelt Mujila seine Worte, rhythmisiert, wiederholt, kehrt immer wieder zum schrillen Ausgangsthema zurück, beschönigt nichts. Es sind Satze wie „Unschuld ist nichts als Feigheit“ oder „Jeder für sich und Scheisse für alle“ und das ewige „Was sagt die Uhr“ der sich prostituierenden Mädchen, die sich einem ins Gehirn hämmern.

Harter Lesestoff, fürwahr, aber einer, den man nicht so schnell vergessen wird.

Was einem als Frau besonders weh tut: Das Frauenbild, das in Tram 83 – im Staccato – vermittelt wird, ist grauenhaft und deprimierend! Es wäre dem Schriftsteller gut angestanden, die Frau in dieser Welt aus Testosteron und Machtgehabe auch einmal als denkendes, fühlendes Menschenwesen darzustellen, anstatt sie nur als beliebig austauschbare Massenware auf- und abtreten zu lassen. Sind es nicht die Frauen, die in schwierigen Situationen den Hauptteil der Last tragen und den Karren am Laufen halten?  Das wird in Afrika nicht anders sein als anderswo. Gerade von Schriftstellern erwarte ich, dass sie männerdominierte Gesellschaftent an ein gleichwertiges Frau-Mann-Bild heranführen. Da genügt es mir nicht, wen der ernüchternde Ist-Zustand zwar krass dargestellt wird, aber kein Gegengewicht dazu geschaffen wird. Gesellschaftliche, auch politische Veränderungen passieren erst, wenn Frauen als vollwertige Menschen anerkannt sind. Ich hoffe jedenfalls, dass Mujila das Thema in einem nächsten Buch noch anders aufgreifen und darstellen wird.

Titel: Tram 83, Roman, aus dem Französischen von Katharina Meyer und Lena Müller, Taschenbuch, 207 Seiten

Autor: Fiston Mwanza Mujila

Verlag: Unionsverlag, www.unionsverlag.com, ISBN 9783293 208032 Fr. 19.50/Euro 12.95

Kurzbewertung: Ein höchst eigenwilliger, eigenständiger Text über die Lebenssituation in einer schwarzafrikanischen Minenstadt, wo jeder mit allen Mitteln sein Glück machen möchte. Kompromisslos der Blick und die Wortwahl, rhythmisch die Sprache.

Für wen: Nichts für Out-of-Africa-Romantiker. Mujila zeigt ein anderes Afrika: das der Schürfer, Kindersoldaten, Glücksritter aller Couleurs, Huren, Zuhälter, Säufer, Jazzmusiker, Hundefänger und anderer Nachtschwärmer. Ein Blick auf das, was korrupte Politiker und Günstlingswirtschaft für ein Land und seine Bevölkerung bedeuten. Angesichts der heutigen politischen Lage in Europa kann das Buch auch durchaus als Lehrstück genommen werden, wohin ein Land driftet, das von innen heraus politisch und wirtschaftlich geschwächt wird. Rücksichtslose Nutzniesser sind in solchen Situationen schnell aus ihren Rattenlöchern gekrochen.

„Es entstand ein kurzes Schweigen…“

Es gibt Bücher, die im Innern vollumfänglich halten, was der Einband verspricht. Das auf Leinen gedruckte Umschlagbild von Ein Sonntag auf dem Lande, herausgegeben bei Dörlemann Zürich, zeigt einen Ausschnitt aus einem von Max Liebermann gemalten Gemälde: „Wannseegarten“. Die Buchgestalter bei Dörlemann hätten nichts Passenderes für ihre Neuausgabe von Pierre Bosts Roman finden können. Der impressionistische Maler hat das Motiv Wannseegarten immer wieder neu aufgegriffen. Dasselbe macht die Hauptfigur in Ein Sonntag auf dem Lande: Der 76jährige Maler Monsieur Ladmiral malt immer wieder neue Ecken seines Ateliers oder ein Stück aus seinem weitläufigen Garten. Monsieur Ladmiral hat sein Leben lang gemalt und damit Erfolg gehabt. Er wird aber nicht als Erneuerer in die Geschichte der Malerei eingehen, wie er grüblerisch feststellt. Nun ist er alt und lebt allein auf dem Lande. Jeden Sonntag bekommt er Besuch von seinem treuen Sohn Gonzague und dessen Familie. So auch an diesen sonnigen Sommersonntag. Alles läuft ab wie immer. Die Beteiligten versuchen sich nicht auf die Zehen zu treten, die Gespräche laufen in den gewohnten Bahnen, man ist bemüht, sich zu respektieren, wenn man sich schon nicht immer versteht. Kleine Missverständnisse und Missstimmungen, gefolgt von kurzem Schweigen, tauchen auf. Gonzague möchte seinem Vater gefallen, diesem alten Herrn, dessen Tage gezählt sind. Doch dann erscheint unerwartet Tochter Irène, in allem das Gegenteil von Gonzague: laut, charmant, freigeistig und – zu des Sohnes Leidwesen – Ladmirals Liebling. Sie wirbelt die sonntägliche Szene munter durcheinander, bevor sie wieder Richtung Paris verschwindet.

Mit seinem Erzählstil – wunderbar langsam – gelingt es Pierre Bost, die Situation unmittelbar auf den Leser zu übertragen. Ich hatte den Eindruck, mich mitten in einem Film mit langen Einstellungen zu befinden: Da ist diese gegen Mittag sich steigernde Hitze, jeder Raum des Hauses hat einen eigenen Geruch, eine leichte Schläfrigkeit legt sich nach dem Essen über Haus, Garten und Bewohner, Grillen zirpen, sanft rascheln die Blätter der Bäume, Kinderstimmen klingen von den Wiesen her. Die Gespräche dümpeln vor sich hin, jeder denkt sich seinen Teil zum Wesen des anderen. Wünsche an den Sohn, die Schwester, den Vater wären da, doch deutlich ausgesprochen werden sie nicht. Andeutungen schweben in der von der Sommerhitze leicht flirrenden Luft. Tatsächlich ist dies ein Text wie ein impressionistisches Gemälde: mal geht er den Gedanken des alten Mannes nach, mal jenen seiner Besucher. Aussen- und Innensichten wechseln  sich ab.

Und da macht es auch nichts, dass dieser Roman bereits 1945 das erste Mal erschienen ist. Seine Themen wie der Tod und das gegenseitige innerfamiliäre Bemühen um Verständnis, die Akzeptanz einer Lebensweise, die dem einen befremdlich, dem anderen die einzig richtige erscheint, sind stets aktuell.

Es ist dem Dörlemann-Verlag hoch anzurechnen, dass er diesen Autor aus der Vergessenheit geholt hat, Ich möchte definitiv mehr von Pierre Bost (geb. 1901, gest. 1975) lesen!

 

Titel: Ein Sonntag auf dem Lande, Roman, Leineneinband, 158 Seiten

Autor: Pierre Bost, aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Rainer Moritz

Verlag: Dörlemann, Zürich, 2018, http://www.doerlemann.com; Originalausgabe bei Gallimard 1945

ISBN 978-3-03820-061-1, FR. 20.50/EURO 17.–

Kurzbewertung: Familiensonntag auf dem französischen Land – ein Gemälde aus Licht und Schatten in sanften Zwischentönen und feinem Humor, sinnlich und besinnlich erzählt. Ausserdem ein hübsches, kleines Buch, das man auch gerne in der Hand hält.

Für wen: Für alle, die wieder einmal mit Überzeugung das Wort „grosse Literatur“ gebrauchen möchten.

 

Was morgen sein wird, wird uns nicht wirklich gefallen

„Ich glaube, tief in uns drinnen ist ein Loch“, sagt Britta.

Wo die deutsche Autorin Juli Zeh hinschaut, da tut’s weh. Sie seziert unsere Gesellschaft, dass es einen fröstelt. Meint man erst noch, sie schlage einen ironischen Unterton an, so merkt man alsbald: Die meint es todernst. Und hat Recht damit. Am Ende von Juli Zehs Romanen wünschte ich mir, sie wären und blieben Fiktion. Nur weiss und fürchte ich, viel zu viel darin ist Realität und was noch nicht real ist, ist auf bestem Weg es zu werden.

Mit Illusionen hat Juli Zeh nichts am Hut. Nach Unterleuten, dem Gesellschaftroman, der uns von Berlinern erzählte, die aufs Land flüchten, und von Landmenschen, die von Landromantik nicht viel halten, präsentiert uns die deutsche Autorin den Roman Leere Herzen. Sie zeigt uns eine nahe Zukunft, die vielleicht schon da ist. Eine Politik, die so sehr aufräumt, dass von Demokratie und Föderalismus nicht mehr viel übrigbleibt. Städte, die wie ausgestorben wirken. Menschen, die sich nur um ihren Kleinkram kümmern. Eine Welt der leeren Herzen.

Zur Story: Britta hat eine Familie, ein Einfamilienhaus und eine erfolgreiche eigene Firma. Zusammen mit ihrem Geschäftspartner Babak kümmert sie sich um selbstmordgefährdete Menschen.  Die hoffnungslosen Fälle sind jene, für die sich Britta und Babak am meisten interessieren. Auf ihnen beruht ihr Geschäftsmodell. Doch Britta und Tabak bekommen Konkurrenz.

Die Geschichte spielt in Braunschweig. Diese Stadt wurde von den Autorin natürlich nicht willkürlich ausgewählt. Wer Braunschweig sagt, denkt reflexartig an die Rüstungsindustrie, das Dritte Reich, das Grossbombardement der Briten, an Kälte und Zerstörung. Dieses Setting im Hinterkopf wird man das ganze Buch hindurch nicht los – Juli Zehs Story baut darauf auf.

Die politische Lage ist vordergründig erbaulich: Trump hat sich mit Putin verbrüdert, der Syrienkrieg ist vorbei, zwischen Israel und Palästina gibt es einen Friedensvertrag, den Islamisten gehen die Zuläufer aus. Innerhalb Deutschlands halten die „Besorgten Bürger“ das Ruder in der Hand. „Heutzutage weiss doch niemand mehr, wofür oder wogegen er sein soll. Natürlich bauen die Besorgten Bürger eine demokratische Errungenschaft nach der anderen ab. Aber trotzdem geht es den Menschen gut, vielleicht sogar besser als früher.“ Die Leute „leben ihr Leben und stecken die Köpfe in den Sand, weil sie in einer Welt, in der man jemanden wie Trump nicht einfach scheisse finden kann, nichts Besseres damit anzufangen wissen“.

Mir kommt das alles sehr bekannt vor. Uns ist, wie Juli Zehs Hauptfigur Britta sachlich feststellt, Politik, Religion, Gemeinschaftsgefühl sowie der Glaube an eine bessere Welt abhanden gekommen. Wir haben uns so oft vorgesagt, wir könnten nichts ändern, weil die da oben doch machen, was sie wollen, dass wir resigniert haben. Wir akzeptieren schulterzuckend Hassredner, wählen Egozentriker, sehen seelenruhig zu, wie alle Werte und Freiheitsrechte verpuffen und durch nichts Ebenbürtiges ersetzt werden – und hoffen dabei, dass sich das irgendwann regeln wird. Gewiss: „irgendeiner“ wird kommen und das alles für uns regeln. Aber wird es im Sinne von Menschlichkeit, Demokratie und der vielbeschworenen Toleranz sein?

Juli Zeh macht keine Hoffnung.

 

Titel: Leere Herzen, Roman, gebunden, 348 Seiten

Autorin: Juli Zeh

Verlag: Luchterhand, München, 2017, http://www.luchterhand-literaturverlag.de

ISBN 978-3-630-87523-1, FR. 27.90/EURO 20.–

Kurzbewertung: Zügig, analytisch und spannend und mit Biss geschriebener Roman mit Blick in die Abgründe unserer Gesellschaft.

Für wen: Nichts für Menschen, die gerne die Augen vor der Wirklichkeit verschliessen, es sei denn, sie wollen wachgerüttelt werden.

Ergänzung: Von Juli Zeh stammt auch ein Buch mit dem Ziel, Kindern Demokratie zu vermitteln: Jetzt bestimme Ich heisst das Kinderbilderbuch. Inhalt: Familie Wiefel hat Streit, denn alle wollen das Sagen haben. Frieden kehrt erst ein, als eine Regierung gewählt wird. Diese muss sich aber gehörig anstrengen, möchte sie wiedergewählt werden.

Komisch, lehrreich und falls der Samen keimt vielleicht doch ein wenig Hoffnung für die Zukunft. Meine Enkelin liebt das Regieren und dieses Buch – und ich auch!

Verlag Carlsen, 2015,ISBN 978-3-551-51816-3

 

Der Liebe und unvermittelt auftauchenden Löchern kann man nicht ausweichen

Nach Was man von hier aus sehen kann ist Die Herrenausstatterin das zweite Buch, das ich von Mariana Leky gelesen habe. Die Art und Weise, wie sie sich ihren Themen nähert, erinnert mich an eine Leidenschaft meiner Jugendzeit, für die ich mein halbes Taschengeld ausgab: Lakritzschnecken. Diese meterlangen, schwarzen, unvergleichlich schmeckenden Bänder, die ich zur Hälfte ausrollte, mir ein Ende in den Mund schob bevor ich mich aufs Fahrrad schwang. Über meinen Oberschenkeln baumelte die stets kleiner werdende Schnecke hin und her. Fahrenderweise biss ich mir immer wieder ein Stück ab, kaute darauf herum, mit den Lippen hielt ich das Ende der Schlange fest. So ging es bis vor die Haustüre, dann war die Lakritzschnecke verschwunden. Nur der Geschmack blieb noch lange auf Zunge, Zähnen, im Hals.

Nun spielen natürlich bei Mariana Leky Lakritzschnecken überhaupt keine Rolle. Nicht die geringste; es ist womöglich sogar so, dass die Autorin Lakritz nicht einmal mag. Was also erinnert mich an diese Süssigkeit?

Es muss mit Mariana Lekys Art zu schreiben zu tun haben. Sie fasst ein Ding ins Auge, so gewöhnlich es auch sein mag. Dann umkreist sie es. Als  würde sie kreisend um ein Detail dieses immer von einer anderen Stelle aus betrachten. Mal von weiter weg, mal aus nächster Nähe. Und mit jedem Verschieben des Blickwinkels gewinnt sie andere Einsichten. Mit der Zeit erscheint mir dieses stete Rotieren um die Dinge als die einzig richtige Art, überhaupt etwas zu betrachten. Und Spass macht es obendrein, da ich mich gerne auf den skurrilen Witz von Mariana Leky einlasse.

Zur Geschichte von Die Herrenausstatterin: Katja Wiesberg hat ihren geliebten Mann Jakob verloren. Der Verlust fühlt sich an wie ein grosses, dunkles Loch, in welchem Katja zu verschwinden droht. Doch dann taucht Herr Blank in Katjas Badezimmer auf. Keiner kann so gut zuhören, wenn Katja schweigen will, wie Herr Blank. Sein Verständnis für Katjas Verzweiflung ist immens, seine Geduld ist von einem anderen Stern. Und dann steht plötzlich jeden Abend Feuerwehrmann Armin vor Katjas Türe. Katja, Blank und Armin gehen auf eine Reise nach Holland. Nach und nach nimmt die Anziehungskraft von Katjas dunklem Loch ab, dafür tauchen andere Löcher auf.

Mariana Leky hat ein fabelhaftes Gespür für die Absurditäten des Lebens, ihre Figuren sind einzigartig und zutiefst menschlich: Wir kennen sie alle, auch wenn wir ihnen noch nie begegnet sind. Sie lieben sich, sind manchmal verzweifelt einsam dabei. Sie führen ihr gewöhnliches Leben. Manchmal sind sie verrückt, meistens sind sie gut, tun aber manchmal das Falsche oder das Richtige auf falsche Weise. Das Leben muss irgendwie bewältigt werden, oder wie Herr Blank es ausdrückt: „Alle wichtigen Entscheidungen müssen auf der Basis lückenhafter Daten getroffen werden.“

 

Titel: Die Herrenausstatterin, Roman, Taschenbuch

Autorin: Mariana Leky

Verlag: Verlag Dumont, Köln, 2010, http://www.dumont-buchverlag.de

ISBN978-3-8321-8544-2, Fr. 15.90/Euro 11.–

Kurzbewertung: Liebe und daraus folgende Verzweiflung mit einer hübschen Prise Absurdität gemischt. Wie bei Was man von hier aus sehen kann, kommt auch hier jemand auf tragische Weise zu Tode. Müsste nicht sein, weil die Autorin auch ohne übertriebene Tragik herrlich schräg fabulieren kann.

Für wen: Lakritzschneckenschleckmäuler

„Ein seltsames Schreiben ist dieses autobiographische Schreiben…“

 

Hansjörg Schneider ist ein Autor, der seit langem zum inneren Kreis der schweizerischen Literaturszene gehört. Obwohl jetzt seine Autobiographie erschienen ist, würde man ihn kaum als einen Autor bezeichnen, der gerne Wirbel um sich selbst veranstaltet. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein.

Wirbel gab es allerdings trotzdem: Als nämlich 1981 das Schweizer Fernsehen Hansjörg Schneiders Sennetunschi ausstrahlte, eine erotisch ausgedeutete Alpensage, war das Entsetzen im Lande gross. Das Stück über die Fleisch gewordene Puppe war in Mundart geschrieben und dies in einer groben, sexuell aufgeladenen Sprache: So mochte sich mancher die heile Alpenwelt nicht vorstellen. Im Eifer der Diskussionen ging beinahe unter, dass Hansjörg Schneider das Schauspiel bereits ein Jahrzehnt früher verfasst hatte. Es wurde 1972 in Zürich uraufgeführt und sorgte bereits damals für Gesprächsstoff.

Doch Hansjörg Schneider ist nicht nur der Autor des Sennetunschi. Von ihm sind regelmässig Bücher erschienen und Schauspiele aufgeführt worden. Hierzulande kennt jeder seine Figur Kommissär Hunkeler, nicht zuletzt, weil Mathias Gnädinger in den Hunkeler-Filmen dieser Rolle sein besonderes Gepräge gegeben hat. Der Erfinder, ein Stück, das von Kurt Gloor für einen Film adaptiert wurde, stammt gleichfalls von Hansjörg Schneider. Ich habe den Erfinder nie auf der Bühne gesehen, der Film mit Bruno Ganz in der Hauptrolle beeindruckte mich aber sehr.

Schneiders Autobiographie trägt den Titel: „Kind der Aare“. Landschaftliche und menschliche Umgebung prägen uns Menschen. Schneider ist im aargauischen Zofingen aufgewachsen, eine Gegend, die der Autor fein und detailgenau zeichnet, mit Flüssen und Bächen, Gassen, Häusern, ihren Bewohnern und ihrer Geschichte. Der Kanton Aargau hat immer wieder besondere Schriftsteller hervorgebracht, Hansjörg Schneider weiss sich in guter Gesellschaft.

Der 80jährige Schriftsteller widmet in seinem Rückblick besonders seinen Kinder- und Jugendjahren grosse Aufmerksamkeit. Er wuchs in einem Elternhaus auf, in welchem nicht viel diskutiert wurde. Kinder hatten zu gehorchen, zu schweigen und zu glauben, was die Grossen ihnen an Wissen zu vermitteln bereit waren. Entfaltung war nicht gefragt. Sie fand entweder im Inneren statt, in Rebellion oder gar nicht. Hansjörg Schneider floh in Bücher und später in die Entscheidung, selber zu schreiben. Die schwierige Beziehung zum dominanten Vater hat den jungen Autor noch weit ins Erwachsenenleben hinein belastet.

Bei Autobiographien kann man sich natürlich fragen, welchen Mehrwert das Lesen einer solchen mit sich bringt. Wer in den 40ern oder 50ern des letzten Jahrhunderts gross geworden ist, hat wohl eine ähnliche Jugend erlebt wie Schneider. Man wuchs in eine Rolle hinein. Gefragt, ob einem diese passe, wurden die wenigsten. Schneider beschreibt dieses Gefüge: die familiäre und dörfliche Kultur, das oft kleinkarierte Denken. So ist dieses Buch auch ein treffender Blick zurück in die eigene Kindheit oder in jene der Eltern und Grosseltern.

Sehr gelungen und überlegt, wie Hansjörg Schneider zwischen seine Erinnerungen Momente aus der Gegenwart flicht. Dadurch gewinnt die Biographie Struktur und gewährt dem Leser Augenblicke des Innehaltens: „Ein seltsames Schreiben ist dieses autobiographische Schreiben, das ich hier betreibe. … Erinnerung wählt aus, verdrängt das eine, rückt das andere in den Vordergrund. Eines nach dem andern heißt: eines vor dem andern. Das eine, das die Erinnerung ist, verdrängt das andere, das die erlebte Realität ist.“

Geschickt webt Schneider den jeweiligen Zeitgeist und die darin agierenden Menschen -– vor allem Lehrer, Schriftstellerkollegen oder Freunde aus der Theaterszene – in seine Erzählung hinein. Was aussen vor bleibt, sind Frau und Kinder. Das passt durchaus zum zurückhaltenden Schriftsteller. Zurückhaltend allerdings nur, wenn es um die persönlichen Angelegenheiten geht; wo er es für nötig erachtet, spricht er nicht um den heissen Brei herum. Seine Sache ist der Klartext: nichts Gekünsteltes oder Aufgesetztes, Überkandideltes haftet seiner Sprache an. Ein Lesegenuss, aus dem in Zwischentönen die Irritation eines alternden Mannes gegenüber dem Heute hörbar wird.

Titel: Kind der Aare, Autobiographie, mit einem Nachwort von Beatrice von Matt, gebunden, 338 Seiten

Autor: Hansjörg Scheider

Verlag: Diogenes, 2018, www.diogenes.ch

Kurzbewertung: Klar in der Sprache, präzise in der Beobachtung, manchmal wehmütig erzählt Hansjörg Scheider sein Leben, seinen Werdegang und von den Menschen, die sein Leben geprägt haben. Dazu gehören nicht nur Eltern und Verwandte, sondern auch Lehrer und Kollegen. Homestories sind keine zu erwarten.

Für wen: Für alle, die gerne wissen wollen, was für ein Mensch und menschlicher Geist hinter den Geschichten über Kommissär Hunkeler oder dem Stück über das Sennetunschi steckt.