Vom Gefühl, immer am falschen Platz zu sein

Zusammenkunft verspricht ein Roman über das britische Klassensystem zu sein, das für jemanden, der nicht über den exklusivsten Familienhintergrund, die richtige Haut- und Haarfarbe und männliche Geschlechtsorgane verfügt, recht brutal ist, ganz egal, wie gut seine schulischen und beruflichen Leistungen sind. Tatsächlich ist es auch eine Geschichte, die einem ziemlich an die Nieren geht und in eine depressive Stimmung katapultieren kann.

Die britische Autorin Natascha Brown beinelt die Probleme ihrer Hauptfigur – einer jungen, klugen, ehrgeizigen Frau mit jamaikanischen Wurzeln und dunkler Hautfarbe – schonungslos auseinander. Die Hauptfigur spricht dabei aus ihrer Sicht. Und diese Sicht ist eine nüchtern-analytische, so wie man sie von jemandem erwarten würde, der in der Londoner Hochfinanz tätig ist. Ihre Eltern sind Immigranten aus der sogenannten Windrush-Generation. Sie wurden einst aus ihrer Heimat geholt, um in England zu arbeiten. Später hat man diesen Menschen ihre Staatsbürgerschaft wieder aberkannt, sie als illegale Immigranten betitelt und wieder abgeschoben. 

Das erzählende weibliche Ich hat auf den ersten Blick viele Vorzüge auf seiner Seite: Der Ehrgeiz, der sich aus dem Willen nährt, es gerade trotz der Herkunft zu schaffen, hat die junge Frau in eine gute Stellung gebracht; ihr liebevoller Freund stammt aus allerbester englischer Familie und steht trotz entsprechender Traditionen hinter ihr; sie hat genügend Geld, um sich eine Wohnung an guter Londoner Lage zu leisten und sich unabhängig zu fühlen. Dennoch ist die kolonialistische Geschichte Englands und die daraus resultierende Arroganz seiner «Ureinwohner» allgegenwärtig. Ebenso unerbittlich, wie die junge Frau ihre Umgebung beobachtet und analysiert, so betrachtet sie auch sich selbst. In ihrer Welt ist nichts, aber auch gar nichts sicher. Selbst jedes freundliche Wort wird zur Speerspitze oder trieft vor Falschheit, aus jeder Kritik spricht Frauen- gepaart mit Rassenhass. Das Leben, das sie führt, laugt sie aus:

Ich fühle. Natürlich fühle ich.

Ich habe Emotionen.

Aber ich versuche die Ereignisse so zu betrachten, als würden sie jemandem anderen passieren. (…) Um mich selbst zu schützen, spalte ich mich ab.

Die Frau landet irgendwann in einer Artzpraxis. Die Diagnose ist vernichtend. Ihr Entscheid, sich nicht behandeln zu lassen, mag einerseits aus ihrer Perspektive verständlich sein. Anderseits habe ich mich beim Lesen gefragt, ob ich eine solch depressive Haltung überhaupt verstehen kann oder will. Wie kann ein wie es scheint unbeugsamer und gerade deshalb erfolgreicher Mensch sich in einer Art Trotzreaktion für den Tod entscheiden? Immerhin lässt der letzte Satz des Buches so etwas wie ein Fünkchen Hoffnung.

Was ich an dem Buch mochte: die verdichtete Erzählweise, die äusserst kluge Auseinandersetzung mit der kolonialistischen Geschichte Grossbritanniens, die Auswirkungen von Sklaverei, Fremdenfeindlichkeit, Verachtung auf Denken und Fühlen der Betroffenen und deren Nachkommen. All das wirklich erhellend. 

Die Geschichte ist in kurze Abschnitte gegliedert, scheinbar absichtslos angeordnet, so dass sie mich an die Arbeit eines Gehirns erinnern, das mal in seinen Gedanken von hier- nach dorthin hüpft.  Dennoch habe ich beim einen oder anderen Abschnitt nicht herausgefunden, was er überhaupt mit der Geschichte zu tun hat.

Insgesamt gesehen bin ich doch etwas enttäuscht von diesem Werk, wirkt der Text auf mich doch ziemlich larmoyant. Und ja: Als blasshäutige Frau habe ich nie Rassenhass am eigenen Leib gespürt. Ich bin aber schon subtiler oder weniger subtiler Frauenverachtung begegnet. Und was Dünkel ist und Augenverschliessen vor unbequemen Wahrheiten, weiss ich auch. Dennoch bin ich voller Hoffnung, dass sich die Dinge nach und nach (oder noch langsamer) ändern werden: Eben genau indem Frauen jeder Couleur sich in Managementpositionen begeben. Werden sie eben angefeindet, schlecht geredet, als Quotenfrauen geschimpft: So what? Die Welt ist brutal, herzlos, unfair. Jedenfalls für die meisten. Ändern wir sie halt, indem wir dem entgegenarbeiten und aufhören zu jammern. 

Dass man das Thema Rassismus auch total anders angehen kann, zeigt mir gerade der Roman Linden Hills der amerikanischen Autorin Gloria Naylor auf. Doch davon in einem nächsten Blogbeitrag.

Autorin: Natasha Brown

Titel: Zusammenkunft, Roman, Aus dem Englischen von Jackie Thomae

Verlag:  Suhrkamp, 2022, gebunden, 114 Seiten

ISBN 978-3-518-43046-0, 20.­– Euro/24.70 Franken

Kurz zusammengefasst: Eine schwarze Frau arbeitet erfolgreich in der Londoner Hochfinanz. Jahrelange Selbstausbeutung und die Konfrontation mit alltäglichem Rassismus und Frauenverachtung fordern ihren Tribut. Und immer gegenwärtig: die Geschichte Englands als Kolonialmacht und die heutige Haltung von Mensch und Staat gegenüber Nicht-Weissen. 

Für wen: Erhellend für jene, die noch nichts über die Windrush-Generation gehört oder gelesen haben. 

Mitmenschlichkeit ist nicht gratis zu haben

Der Roman Die Stimme von Jessica Durlacher stellt den Leser vor die Frage: Wie weit würde man selber gehen, jemandem in Not zu helfen? Brächten wir heute den Mut auf, uns gehen Naziterror aufzulehnen? Gegen fanatische Islamisten? Einen Verfolgten zu verstecken? Was getrauen wir uns zu sagen, zu tun gegen Demagogen, selbsternannte Propheten, Umweltzerstörer, Kriegstreiber, Politiker, die ohne zu zögern und für den eigenen Vorteil demokratische Prozesse aushebeln, ihr eigenes Volk beschiessen, mit Atomwaffen drohen? 

Es gäbe viele Fronten, an denen es sich zu engagieren lohnen würde. Aber nicht immer ist so ein Einsatz von Erfolg gekrönt. Davon können manche ein Liedchen singen, sie sich voller Tatendrang ­– und Illusionen – eines Flüchtlings annahmen. Mitmenschlichkeit ist offenbar nicht gratis zu haben. 

Die Story:

Die charismatische somalische Muslima Amal kommt als Haushalthilfe in die jüdische, niederländische Familie von Zelda und Bor. Zelda und Bor waren mit ihren Kindern beim Angriff auf die Twin Towers in New York hautnah mit dabei. Der Ereignis hat tiefe Wunden hinterlassen.

Dieses Setting bringt einiges an Spannung mit sich. Die Autorin Jessica Durlacher lässt Zelda erzählen. Am meisten beeindruckt hat mich die gnadenlose Offenheit, mit der sie die inneren Zustände Zeldas seziert: Da ist einerseits ihre Skepsis gegen Muslime, anderseits ihr innerer Kampf gegen die eigenen Vorurteile. Dazu kommt, dass Amal nicht nur eine Schönheit, sondern auch eine begnadete Sängerin ist. Zelda möchte ihr gerne zu Erfolg verhelfen. Allerdings muss sie sich die Frage stellen: Geht es ihr wirklich um Amal? Ist es nicht vielmehr so, dass sie sich deshalb in die Mission «Erfolg und Freiheit für Amal» stürzt, um sich als guter Mensch zu fühlen? Oder damit Amal ihr Haus verlässt?

Es ist nicht unbedingt so, dass einem Zelda beim Lesen sympathisch ist. Vielmehr wirkt sie verwöhnt, anspruchsvoll, egoistisch. Auch blind, wenn es um ihren ältesten Sohn geht, abwesend und kühl, wenn es um Bor geht. Dennoch geht man mit dieser Figur mit. Das liegt daran, dass sie sich ihrer Fehler bewusst ist, aber kaum weiss, wie sie dagegen ankämpfen kann. Oder Zweifeln, Neid und Ängsten ausgesetzt ist.  Oder an kulturelle Grenzen stösst.

Die Geschichte endet dramatisch, nachdem Amal in einer Fernsehsendung sich von ihrem Kopftuch befreit und damit ins Kreuzfeuer islamistischer Fanatiker gerät. Zeldas Familie zahlt einen hohen Preis für ihre Mitmenschlichkeit.

Autorin: Jessica Durlacher

Titel: Die Stimme, Roman, Aus dem Niederländischen von Annelie Bogener

Verlag:  Diogenes, 2022, gebunden, 495 Seiten

ISBN 978-3-257-07185-6, 25 Euro/28 Franken

Kurz zusammengefasst: Eine singende Muslima mit Kopftuch in einer modernen jüdischen Familie. Beide Seiten haben ihre Geschichte und sind von ihr geprägt. Ein Roman, der Mitmenschlichkeit, gegenseitiges Unverständnis, kulturelle Unterschiede, das Kämpfen gehen innere und äussere Dämonen schonungslos thematisiert.

Für wen: Jene, die sich schon mal gefragt haben, ob sie in einem Terrorsystem ihr Leben oder das ihrer Familie riskieren würden. 

Das Leben auf Hochglanz

Wer wie ich gerne koreanische Filme schaut, dem sind sie schon begegnet: diese makellos glatten Gesichter, diese Barbies, durchgestylt, massiert, in Form gebracht von den Haarspitzen bis zu den Zehennägeln, gekleidet in hautenge Kostüme, die eigentlich nichts anderes tun, als das Fehlen jeglicher Speckröllchen zu betonen. In den Filmen selber wird gecremt und geschmiert, was das Zeug hält. Selbst Grossmütter versuchen, mit Dreissigjährigen mitzuhalten und werden gelobt, wenn sie – von hinten – wie solche ausschauen. Natürlich haben die Filmfiguren auch einen tollen Job in einer der «grossen Firmen». Daneben schlemmen, feiern und trinken sie wacker Soju –  und das nicht zu knapp. 

Beim Zuschauen kommt einem bald der Verdacht, bei diesem ganzen schönen Schein gehe es nicht mit rechten Dingen zu und her. Allein schon die Frage, wie das alles –Schönheitspflege, Job, Familie, Feiern – zeitlich aufgehen soll, überfordert mich. Und gibt es denn in Korea nur schöne Menschen? In den Filmen kommen auch ein paar übergewichtige Figuren vor: Fischverkäufer, Bäuerin, alte Jungfer. Erfolglos. Ungebildet. Selber schuld. Hätten sich ja mehr bemühen können. Kinder werden behandelt wie kleine Erwachsene: auf Leistung in der Schule getrimmt, Tränenvergiessen kommt nicht in Frage. Mit Spott überschüttet wird, wenn sich so ein Kind kindlich benimmt.

Filme und Romane entspringen der Phantasie, könnte man einwenden. Doch ich behaupte: die Phantasie nährt sich aus dem, was die Augen beobachten und spiegelt demnach die Realität.

Und damit wäre ich bei dem Roman von Frances Cha, der dieser Tage beim Unionsverlag unter dem Titel Hätte ich dein Gesicht erscheint. Die Autorin lebt zwar in Amerika und Seoul. Wer ihren Lebenslauf googelt, entdeckt auch das Bild einer schönen Frau, die einer koreanischen Serie entsprungen sein könnte. Oder eben dem entspricht, was heutzutage Verlage suchen: junge Frau mit Sexappeal, die schreiben kann und von der man durchaus noch ein paar Bücher erwarten darf.

Im Roman Hätte ich dein Gesicht taucht der Leser ein in das Leben von Ara, Kyuri, Sujiin, Miho und Wonna. Fünf noch junge Frauen auf der Suche nach einem Weg, ein wenig glücklich zu werden. Ara stammt aus einfachsten Verhältnissen. Sie ist nach einem Überfall verstummt und wird demnach als behindert betrachtet. Kyuri arbeitet in einem Room Salon. Sie trinkt nächtelang mit Männern, sie ist gesundheitlich angeschlagen, das Geld rinnt ihr durch die Finger. Ihr ganzes Glück sind die Handtaschen, die ihr ihre Stammkunden gelegentlich schenken. Sie ist verliebt in Bruce, einen Kunden. Auch ihre Freundin Sujin möchte in einem Room Salon arbeiten, doch die Augen-OP, die sie sich hat machen lassen, ist nicht geglückt. Das hält sie aber nicht davon ab, sich auch den Rest ihres Gesichts zurechtmeisseln zu lassen. Um diesen Schritt zu machen, muss sie sich aber blind stellen, sonst würde sie die Verzweiflung in den Augen ihrer Freundin Kyuri sehen. Miho wiederum ist Künstlerin und hat sich in einen reichen Mann verliebt. Seine Familie wird sie nie als Schwiegertochter akzeptieren. Wonna ist verheiratet. Allerdings hat sie Mühe ein Baby zu bekommen. Dies belastet sie und ihre Ehe.

Frances Cha beschreibt eine Gesellschaft, in welcher Aufstieg zwar erwünscht, ja geradezu gefordert wird. Erfolg ist jedoch an allerhand Bedingungen geknüpft. Ein geradezu unmenschlicher Fleiss ist das eine. Doch der nützt wenig, wenn jemand nicht die richtigen Schulen besucht, die richtigen Beziehungen oder Familienbande plus Geld hat. Zweite Bedingung ist eine makellose Erscheinung nach einem geradezu unmenschlichen Schönheitsideal. Drittens der Wille, sich zu unterwerfen: der Firma, dem Chef, den Gebräuchen, den Männern. Codes sind allgegenwärtig. Über das was schief läuft oder laufen kann, wird nicht gesprochen. Fehler gehören nicht an die Öffentlichkeit, noch nicht einmal in den Freundeskreis. Und wo Probleme verschlossen werden, kann auch keine Frage auftauchen, wie man die Dinge ändern, verbessern könnte. So strampelt jeder und jede vor sich hin. 

Wie einsam so ein Leben inmitten einer Grossstadt wie Seoul sein kann, zeigt Frances Cha in ihrem Roman auf. Sie lässt jede ihrer Figuren einzeln zu Wort kommen. Schicksale tun sich auf, die sprachlos machen. Doch, manchmal ist auch Freundschaft zu spüren, doch letztlich ist die Tristesse der fünf Frauen überwältigend. Die Geschichte lässt offen, wem es gelingt, sich zu einem glücklicheren Leben durchzuwursteln. Man kann nur hoffen, die fünf Frauen finden einen Weg, die Fesseln abzuschütteln und gemeinsam der rigiden Gesellschaftsordnung eine lange Nase zu drehen.

Autorin: Frances Cha

Titel: Hätte ich dein Gesicht, Roman, übersetzt aus dem Englischen von Nicole Seifert

Verlag:  Unionsverlag, 2022, gebunden, 285 Seiten

ISBN 978-3-293-00586-0, 23.­– Euro/31 Franken

Kurz zusammengefasst: Das perfekte Gesicht, den perfekten Körper, die perfekte Familie, den perfekten schulischen Abschluss, den perfekten Job. Danach strebt in Seoul jede und jeder. Aber Gott macht bei der Verteilung der Gaben Fehler. Diese Fehler müssen ausgebessert werden. Nur dann gelingt es: das perfekte Leben.

Für wen: Alle, die schon mal von einer Schönheits-OP gedacht haben, aber sie sich nicht leisten können. 

Hier stinkt es nach Pest, dort duften Rosen

Wer diesen Blog aufmerksam verfolgt, weiss, dass ich eine eifrige Orhan-Pamuk-Leserin bin. Keine Frage, dass ich mir auch Die Nächte der Pest bestellt habe. Den Roman um eine Pestepidemie auf einer Mittelmeerinsel und die dazugehörigen Irrungen und Wirrungen haben wir offenbar der Hellsichtigkeit des Autors zu verdanken, der seinen Pest-Roman offenbar noch vor der Corona-Pandemie geschrieben hat. Leider scheint mir das Werk nicht durchgehend geglückt. Und das liegt nun wirklich nicht daran, dass wir mit den Reaktionen der menschlichen Spezies auf Seuchen in den letzten Jahren sattsam Bekanntschaft gemacht haben. Und diese Reaktionen, so viel sei verraten, präsentiert uns der Autor in allen Einzelheiten und ziemlich vergnüglich auf dem Seziertisch.

Insgesamt gesehen handelt der Roman vom puren menschlichen Irrsinn, wie wir ihn tagtäglich sehen, der sich aber besonders in Krisenzeiten rasant vervielfältigt. Angesichts der Hilflosigkeit der Menschen während einer Epidemie wenden sich einige der Religion zu, in der Hoffnung, Gott werde es schon richten. Andere wiederum mögen lieber Verschwörungstheorien und finden schnell Schuldige. Die Politiker wedeln derweil heisse Luft von hier nach dort. Indessen suchen manche ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen und sich selbst in Sicherheit, das heisst, sie verteilen die Bakterien frischfröhlich in der Gegend. Vernünftige Massnahmen werden angezweifelt, Sachverständige demontiert, Blockaden überwunden, Nationalismus feiert Hochkonjunktur und Personen, die sich bisher durch nichts hervorgetan haben, werden plötzlich aus dem Untergrund nach oben gespült und zu Helden hochstilisiert. Unterdessen spielen die Mächtigen ihre Machtspielchen. 

Das alles dauert so lange, bis es dem Bakterium zu blöde wird – oder es keine Opfer mehr findet. 

Pamuk entwirft auf seiner erfundenen Insel Minder, die zum osmanischen Reich gehört, einen in sich geschlossenen, detailreich und oftmals heiter dargestellten Mikrokosmos all dessen. Einige Protagonisten kommen einem bekannt vor, auch wenn der Roman zu Anfang des 20. Jahrhunderts spielt und zu weiten Teil Fiktion ist. Ganz und gar nicht fiktiv ist allerdings, dass die Pest zu jener Zeit ausgehend aus Asien bis nach Europa gelangte. Ein Heilmittel gegen das Pestbakterium gab es keines, Antibiotika wurden erst viel später entdeckt. 

Ich schätze es, wenn Pamuk den Demagogen ein wenig auf den Füssen rumtrampelt. Es braucht Literaten seines Formats, wenn es um die Wahrheit geht, die sich sonst keiner zu sagen getraut. Das Buch hat übrigens den Herren, die in der heutigen Türkei das Sagen haben, mächtig missfallen, so dass der Autor wegen der Verhöhnung des türkischen Staatsgründers Atatürk angeklagt wurde. Es ist natürlich klar, dass es bei dieser Anklage am allerwenigsten um Atatürk geht, sondern darum, wie die heutige Türkei mit Pressefreiheit und Meinungsvielfalt umgeht. Nämlich mit Humorlosigkeit, Repression und tollkühnen Anklagen. Gerade so, wie es die Regierenden in Pamuks Roman halten. In diesem kommen neben erfundenen Figuren auch wahre Personen vor, unter anderem der Autor selbst. Wahrheit, Fiktion: für den Leser ist das Einerlei, sofern er im Geschriebenen Bezüge zu seinem Leben herstellen kann. Und darin ist Pamuk ein Meister. 

Dass Orhans Pamuk das Risiko einer Anklage immer wieder trägt, ist ihm hoch anzurechnen.

So weit so gut. Jetzt stellt sich einfach die Frage, wo ich denn Schwierigkeiten mit diesem Roman hatte. Kurz gesagt: Längen, zu viele Wiederholungen, Unlogik. Der Roman baut auf Briefen auf, die eine osmanische Prinzessin täglich an ihre Schwester schreibt. Die Prinzessin sitzt mit ihrem Gatten, einem Seuchenspezialisten, auf Minder fest. Sie beschreibt in ihren Briefen, wie es auf der Insel während des Pestausbruchs (keiner darf die Insel verlassen) zu- und hergeht. Es gibt aber keine Post- oder Telegrafenverbindung, weil im Zuge des allgemeinen Wahnsinns eine Revolution ausbricht und sich die neue Regierung vom osmanischen Reich lossagt. Erzählt wird die Geschichte aber nicht von der Prinzessin selber, sondern von ihrer in Minder Historie bewanderten Urenkelin, die wiederum … aber nein, hier wird es einfach zu umständlich. 

Die Hauptstadt von Minder stellt Pamuk in den blühendsten Farben dar: An jenen Ecken stinkt es nach Pestbeulen, an anderen duften Rosen. Doch wenn die Pferde die schwere Kutsche mit der Prinzessin zum gefühlt hundertsten Mal die steilen Strassen hochziehen, dann weiss ich nicht, soll ich mit den Pferden oder mit mir als Leserin mehr Erbarmen haben. Ja, und dann gibt auch noch einen Mord ganz zu Anfang des Buches, der auch eine Rolle spielt, dann aber ziemlich enttäuschend aufgelöst wird, was irgendwie auch nicht mehr draufankommt, weil sowieso schon der Grossteil der Protagonisten der Pest anheimgefallen und beerdigt ist.

Insgesamt ein pamuksches Lesevergnügen, dem ein paar Seiten weniger nicht geschadet hätten.

Autor: Orhan Pamuk

Titel: Die Nächte der Pest, aus dem Türkischen übersetzt von Gerhard Meier

Verlag:  Hanser, 2022, gebunden, 696 Seiten

ISBN 978-3-446-27084-8, 30.­– Euro/42.90 Franken

Kurz zusammengefasst: Das osmanische Reich kollabiert, da bricht auf Minder, einer Insel die zum Reich gehört, die Pest aus. Es werden Fachleute entsandt, die die Seuche unter Kontrolle bringen sollen, doch der Verantwortliche wird ermordet. Die Massnahmen der Regierung werden hintertrieben, der Gouverneur reagiert mit Härte. Auf Aktion folgt Gegenreaktion, eine Revolution bricht aus. Unterdessen hat der Pestbazillus freies Spiel. Weitgehend vergnügliche Seuchenparabel. 

Für wen: Für alle, die schon immer etwas über Seuchen wissen wollten und wie man sie nicht bekämpfen kann.

Wo selbst die Stille Schatten wirft

Laura Freudenthaler hat sich in ihrem Roman Die Königin schweigt mit der Generation ihrer Grosseltern auseinandergesetzt. Die Hauptfigur, Fanny, wächst in einem Bergdorf auf. Hier wird gearbeitet und geschwiegen. Das Fanny-Kind zieht es unter der Bank in eine stille dunkle Ecke, von wo es über Gerüche und Geräusche die Welt in sich aufnimmt. Später heiratet Fanny den Dorflehrer, der eines Tages nicht mehr von einem seiner Ausgeh-Abende zurückkehrt. Das grosse Glück war diese Ehe nicht. Doch Fanny hat früh gelernt, dass das Unglück einem überall findet, auch wenn man sich in Ecken verkriecht und sich still verhält. Die junge Frau zieht mit ihrem Sohn weg vom Dorf. Weg vom Geschwätz der Leute und den Erinnerungen. Das Unglück lässt Fanny aber nicht aus den Augen.

Eigenartig, wie oft mich dieser Roman an meine Mutter und ihre Vorstellungen erinnerte. An ihr Lebensleitmotiv, das über allem stand, was sie tat oder sein liess: Was würden auch die Leute sagen. Auch meine Mutter hatte das Schweigen von klein auf gelernt. Als wäre das Reden über Erlebtes ein Makel. Weshalb vom Unglück reden, wo es doch alle am Wickel hatte. Und über Glück schon gar nicht, wegen des Neids. Dann doch besser über andere reden. Wer besucht wen und aus welchen Gründen? Wer bezahlt seine Rechnungen nicht? Wer hat die Witwenkleidung abgelegt, obwohl noch kein Jahr um ist? Dabei gut aufpassen, was man den anderen über sich selbst verrät. Und immer die Wäsche nach Plan aufhängen, denn was würden die Leute sagen, wenn der Büstenhalter vergnügt neben einem Paar Männerunterhosen im Wind getanzt hätte. 

Allgegenwärtige soziale Kontrolle. Und Selbstkontrolle. Vielleicht noch ein Vermächtnis einer Gesellschaft, die die Kriegsjahre und ihre Überwachungssysteme miterlebt hat.

Doch zurück zum Buch: Aus dieser Geschichte kommt einem eine eigenartige Schwermut, viel Schattenhaftes entgegen. Als läge das meiste im Halbdunkel.  Das Motiv des unter der Bank kauernden Mädchens, das überdies in einem Schattenwinkel gross wird, zieht sich so durch den ganzen Roman. Dialoge sind praktisch keine vorhanden, am ehesten noch indirekte Rede. Die Sprache nüchtern, sachlich, unverstellt, bildhaft.

Nicht klar ist mir geworden, wer hier eigentlich erzählt. Fanny, die im Alter über ihr Leben nachdenkt? Oder ihre Enkelin, oder gar eine auktoriale Erzählstimme? Eine Mischung aus allem? Die Frage ist insofern berechtigt, als Fanny auf die bohrenden Fragen der Enkelin ja keine Antworten liefert. Das sagt ja schon der Titel aus: Die Königin schweigt. 

Titel: Die Königin schweigt, Roman, 206 Seiten, Paperback

Autorin: Laura Freudenthaler

Verlag:  btb, 2019

ISBN 978-3-4421-71705-7, 10.­– Euro/12.40 Franken

Kurz zusammengefasst: Ein lohnenswertes Buch, das uns etwas über die Kriegs- und Nachkriegsgeneration verrät. Freudenthalers hat ein besonderes Gespür für Stimmungen, Schattierungen und Gefühlslagen, die nicht einmal der betroffenen Person ganz klar sind. Eine sensible Annäherung an die Generation von Frauen vor uns.

Für wen: Wer seine Mutter oder Grossmutter und ihr stoisches Ertragen von widrigen Lebensumständen noch nicht verstanden hat, ist damit sicher bestens bedient.

Mutterliebe – Sohnespflicht und alles was dazwischen liegt

Das Verhältnis erwachsener Kinder zu ihren Eltern ist wohl stets ein diffuses. Jedenfalls scheint es ungeschriebenes Gesetz, dass Kinder ihre Eltern zu achten haben, zu lieben, sofern diese Achtung und Liebe nicht gänzlich verspielt haben. Im Gegenzug, so der gesellschaftliche Konsens, lieben Eltern ihre Kinder, komme was da wolle, sorgen sich und wollen, so lange sie leben und darüber hinaus, nur das Beste für ihre Nachkommen.

Nun ist natürlich nicht genau definiert, wie Eltern es anstellen, ihre Nachkommen glücklich zu machen. Es ist noch nicht einmal klar, wie sie es anstellen sollen, deren Handlungen und Entscheide immer zu verstehen oder zu akzeptieren. Gleichzeitig bleiben Eltern ihren Kindern immer ein Stück weit fremd. Das liegt zum einen daran, dass Eltern schon ein Leben vor der Geburt ihrer Kinder gelebt haben. Zum anderen, dass Eltern ihren Kindern bestimmt nicht alles erzählen, und in dem was sie erzählen auch gehörig flunkern. Erzählungen sind zudem immer ungenau, sind sie doch eine Mischung aus Erinnerung, Auswahl, Phantasie und Formulierungskunst. 

Noch vertrackter wird das Eltern-Kind-Verhältnis, wenn es sich beim Elternteil um die Mutter handelt. Mütter bringen ihre Kinder zur Welt, nachdem sie sie neun Monate mit ihrem Leib genährt und beschützt haben. Die Bindung hat ­– so wird uns vermittelt ­– besonders stark zu sein und ist nur in Ausnahmefällen diskutierbar. Doch wie in allem, was einfach so vorausgesetzt wird, steckt darin ganz schön viel Konfliktpotenzial.

Matthias Nawrat hat sich in Reise nach Maine das Verhältnis Sohn-Mutter vorgenommen und szenisch beleuchtet. Er beschreibt in seinem Roman die Amerika-Ferien-Reise eines Sohnes mit seiner Mutter. Nicht dass der Sohn wirklich mit seiner Mutter hätte verreisen wollen. Doch eine Woche, so nimmt er sich vor, würde er ein solches Arrangement schon aushalten. Die zweite Woche würde er ganz für sich haben. Doch diese Pläne hat er ohne seine Mutter gemacht. So leicht lässt sie sich nicht abschütteln.

Dass Nawrat sich selber in der Hauptfigur des Sohnes setzt, macht die Geschichte besonders intensiv. Wahrhaftigkeit ist das Stichwort, das einem bei so einem Schreibexperiment als erstes in den Sinn kommt. Ohne diese geht es nicht. Wir begleiten den Romanautor und seine Mutter durch New York und später auf der Weiterreise nach Maine. Wir sehen sein gut nach vollziehbares Schwanken zwischen Sohnespflicht und Mutterliebe. Wir können die  Gereiztheit nachvollziehen, die bei beiden aufkommt, denn auch der Mutter ist klar, dass der Sohn sich seinen Traumurlaub nicht an der Seite von Mama vorstellt. Doch sie ist entschlossen, diese Tage mit ihrem Sohn zu geniessen. 

Eine Szene fast zum Schluss des Buches hat sich mir besonders eingeprägt. Es ist dies eine Wanderung, die die beiden gemeinsam einen Berg hoch machen. Vorausgegangen ist ein Streit. Die Mutter geht voran, lässt sich nicht bremsen, der Sohn stiefelt hinterher:

«Der Rücken meiner Mutter, ihr ganzer Körper war, während sie mir vorausging, ganz aufgerichtet, sie ging aufrecht und federnd, sie schwebte fast, als sei sie eine junge Person, als hätten Raum und Zeit sich in dem Hohlweg gekrümmt und ein Fenster sich geöffnet in eine frühere Zeit. … Sie ging, während mich die Erde gnadenlos anzog und jeden meiner Schritte beschwerte, mühelos vor mir den Berg hinauf und nahm eine Stufe nach der nächsten, als könnte ihr die Schwerkraft nicht anhaben.» 

Schöner und eindrücklicher kann nicht beschrieben werden, wie eine Generation auf die andere folgt.

Titel: Reise nach Maine, Roman, 218 Seiten, gebunden

Autor: Matthias Nawrat

Verlag:  Rohwolt, Hamburg, 2021

ISBN 978-3-3-498-00231-2, 22.­– Euro/31.90 Franken

Kurz zusammengefasst: Mutter und erwachsener Sohn verreisen. Erst nach New York, dann mit dem Auto nach Maine. Unterschwellige Vorwürfe, inneres Knurren, elterliche und kindliche Zuneigung, Fremdheit in der Verbundenheit: Wie sollten sie auf einer solchen Reise nicht zum Ausdruck kommen?

Für wen: Eine Mutter, die einen ab und an die glatten Wände hochtreibt, haben wohl alle.

Wie es dazu kommen kann, dass der Thunersee absäuft

Mit Pascal Gschwind geht es rasant abwärts. Das sieht er selber natürlich anders. Er hat einen neuen, ihm viel abverlangenden Job bei Valnoya angefangen. Valnoya ist weltweit im Minengeschäft tätig. Und gerade eröffnet sich Pascal Gschwind eine Möglichkeit, rasch die Karriereleiter hochzuklettern und einen Sack voll Geld nach Hause zu tragen: Am Beatenberg wurde Recapitanium gefunden. Der Kanton Bern veranlasst gegen die Warnung von Spezialisten und Umweltschützern Sondierbohrungen. Derweil gibt Valnoyachef Hiller Gschwind den Auftrag, für die Firma jenes Grundstück zu erwerben, unter welchem sich die wunder- und kostbare Recapitanium-Mine befindet. Da wird Pascal Gschwind gleich erfinderisch und nimmt es mit den geltenden Landerwerbbestimmungen nicht so genau. Wäre doch schön, wenn er zu seinem Tesla das passende Boot hätte, um auf dem Thunersee herumzukurven. Während Geschwind sich ein Diplom als Landwirt bastelt, beschäftigt sich seine Ehefrau Rina mit Joga, Achtsamkeit und anderen schönen Dingen, indes sein Sohn Levin eine Umweltorganisation namens Back to the fruits gründet und die Schule schmeisst. Als ob Pascal Gschwind mit seinem «sustainability report» und den Umweltsünden eines peruanischen Valnoya-Betriebs nicht schon genug um die Ohren hätte. 

Soweit ein Anriss der temporeichen, fabelhaften Geschichte, die Urs Mannhart unter dem  etwas umständlichen Titel Gschwind oder das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen, erschienen beim Secession-Verlag, verfasst hat. Der Autor lässt uns seinen Gschwind so richtig schön ans Herz wachsen, denn trotz all seiner Karrieregeilheit und seines Wirtschaftsverträglichkeitsgeschwafels hat Pascal Geschwind auch menschliche Seiten. Ob am Ende Umwelt, Allgemeinwohl und Familie mehr wiegen als Geld und Macht, dafür muss man diesen köstlichen, aberwitzigen Roman schon selber lesen. Langweilig wird es jedenfalls nicht. Ausserdem: nach all dem virusbedingten schlechten Nachrichten darf man sich schon wieder mal mit den besorgniserregenden Nachrichten rund um den Planeten Erde beschäftigen (und sich in allen Farben vorstellen, was passiert, wenn der Thunersee absäuft). Mannhart legt mit Beobachtungsgabe und feiner Ironie offen, wie wir es mit Negation und argumentativ unterstütztem Selbstbetrug vermeiden, uns näher mit Themata zu beschäftigen, die uns eigentlich unter den Nägeln brennen sollten.

Titel: Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen, Roman, 286 Seiten, gebunden

Autor: Urs Mannhart

Verlag:  secession Verlag, Berlin, 2021

ISBN 978-3-96639-039-2, Fr. 30.­–, Euro 23.­–

Kurz zusammengefasst: Raffgier und Machthunger bringen nicht nur Gschwinds Leben durcheinander, sondern auch die Berner Alpen ins Wanken. Süffig zu lesen, ironisch, phantasievoll aber als mögliches Szenario leider, leider nicht allzu abwegig. 

Für wen: Kann ich einfach allen empfehlen.

Man nehme …

Man nehme vier Jugendliche: einen Schwarzen, einen Schwulen, ein freakiges Mädchen und einen Aussenseiter in schwieriger familiärer Situation. Man gebe einen gehäuften Esslöffel Herzschmerz dazu, zweihundert Gramm Drama und setze das Ganze in die amerikanische Pampa, rühre gut um und lasse es über gut dreihundert Seiten köcheln. Fertig ist der Coming-of-age-Roman.

Diese und andere Gedanken sind mir beim Lesen von Benedict Wells Hard Land durch den Kopf gegangen und haben mich von der eigentlichen Story abgelenkt. An und für sich eine runde, leicht zu lesende Geschichte über Freundschaft und  Erwachsenwerden. Aber eben auch eine Geschichte, die ich so oder allzu ähnlich schon gelesen habe. Eine Geschichte auch, die einen in ihrer dichten Atmosphäre in die eigene Jugend zurückträgt, als das Gras intensiv nach Sommer roch, die grosse Welt sich bald auftun würde, Risiken nichts als Spass waren und das Drama stets auf der Bettkante sass. 

Wir schreiben die Achtzigerjahre. Sams einziger Freund ist weggezogen, die Sommerferien stehen vor der Tür. Es werden unerträgliche Ferien werden, denn Sams Mutter ist schwer krank und sein Vater ohne Arbeit. Sam meldet sich auf einen Ferienjob im örtlichen Kino und begegnet den etwas älteren Freunden Cameron, Hightower und Kirstie.

Titel: Hard Land, Roman, 342 Seiten, gebunden

Autor: Benedict Wells

Verlag:  Diogenes Zürich, 2021

ISBN 978-3-257-07148-1, Fr. 26.40, Euro 24.-

Kurz zusammengefasst: Geschichte des jugendlichen Aussenseiters Sam, der in mehr als einer Hinsicht den Sommer seines Lebens erlebt. Berührend, melancholisch, empathisch mit vielen Seitenblicken auf Musik, Film und Literatur der Achtzigerjahre.

Für wen: Wers mag.

Literatur, die neue Inseln baut

In der 22jährigen Hekla schlummert ein Vulkan, ein Schreibfeuerwerk, das nach draussen muss. Doch Hekla lebt auf Island in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Schriftstellernde Frauen gelten dort gerade als Unding der Natur, oder sie bringen sich um. Keine guten Voraussetzungen für Hekla, die sich als Serviererin über Wasser hält. Ihre männlichen Gäste legen ihr nahe, sich für den Job als Miss Island zu bewerben. Hekla ist von der Idee wenig begeistert.

Hekla ist eine junge Frau vom Lande, die sich in die Stadt aufgemacht hat, um frei zu sein und ihren Weg zu gehen. Sie ist anders als die anderen, weiss das auch und versucht gar nicht erst, sich der Norm anzupassen. Die Stärke dazu haben ihr ihre Eltern mit auf den Weg gegeben. Wenn es hart auf hart kommt, hat sie in Reykjavik ihren Freund Jón John und ihre Freundin Ísey. Jón John ist schwul und droht, daran zugrunde zu gehen. Ísey ist voller Poesie, doch sie hat sich jung verheiratet und ist Mutter geworden. Sie hangelt sich melancholisch durch ihre Hausfrauentage. 

Miss Island von Audur Ava Ólafsdóttir ist eine Geschichte, die von innerer Stärke handelt und dem Vertrauen in das eigene Talent. Dass die Gesellschaft Andersartigen Hürden in den Weg legt, ist auch Hekla klar. Und dass sie sich nicht von ihrem Weg abbringen lässt ebenso, auch wenn das Verzicht bedeutet. Gleichzeitig ist Miss Island ein Roman über die Liebe zum geschriebenen Wort und zur Landschaft, in der das Wort hervorbricht, sich seinen Weg bahnt, sich wie ein Vulkan neue Inseln baut. Ein kleines literarisches Juwel: amüsant, poetisch, kraftvoll.

Titel: Miss Island, Roman, 236 Seiten, gebunden

Autorin: Audur Ava Ólafsdóttir

Verlag:  Insel, Berlin, 2021

ISBN 978-3-458-17902-3, Fr. 31.50, Euro 22.-

Kurz zusammengefasst: Emanzipation in den 70ern auf Island. Eine gelungene und witzige Mischung aus Zeitgeschichte, Bohème, Coming of age mit viel isländischem Einschlag. Sollte man lesen. 

Für wen: Alle, die Mut brauchen, ihren Talenten und Träumen zu vertrauen.

Ein Frauenleben zwischen orange-braunen Blümchentapeten

Manchmal frage ich mich, ob und inwiefern sich das Leben von uns Frauen in den letzten 50 Jahren verändert hat. In meiner Generation galt die Berufswahl für Mädchen nach der Schule als eine Selbstverständlichkeit, auch wenn es hie und da noch hiess, man heirate ja dann doch. In diese Aussage eingeschlossen war nicht nur die Aussicht auf Kinder, sondern auch, dass der Ehemann schon für den zukünftigen Lebensunterhalt aufkomme, und ebenso, es lohne sich nicht, allzu viel Zeit und Geld in die Ausbildung  zu investieren. 

Und tatsächlich sind die meisten meiner Jahrgängerinnen diesem eingepflanzten Lebensentwurf nachgekommen, wenn auch mit dem Anspruch, den erlernten Beruf irgendwann wieder aufzunehmen, «wenn die Kinder gross genug sind».

Und heute: Frauen lernen, wozu immer sie Lust haben. Sie arbeiten ohne Unterbruch. Kinder bekommen sie dann, wenn es passt, und das mit dem Heiraten überlegen sich einige doch recht gut. Ehemänner wollen auch keine Versorger mehr sein, sondern Partner. Das klingt soweit ganz gut, inwieweit es funktioniert, steht auf einem anderen Blatt Papier. 

Die grosse Freiheit also?

Welche zähen politischen und persönlichen Schritte es hin zu dieser Situation brauchte: Mir kommt vor, da bestünden heutzutage etliche Wissenslücken. Da scheint ein Rückblick in die Siebzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts gar nicht so verkehrt. Was trieb Frauen zu jener Zeit der orange-braunen Blümchentapeten um, wovon träumten sie?

Frauke Ohloff ist der Sache in ihrem Roman Fiona nachgegangen.

Fiona ist aus Deutschland in die Schweiz gezogen und sucht Anschluss und etwas, was ihr Leben ausfüllt. Was das sein könnte, weiss sie nicht. Vorerst lässt sie sich auf sexuelle Abenteuer ein, deren Anfang das Ende schon ahnen lässt. Ihr Mann Clemns scheint die Geduld in Person zu sein, verbringt aber immer mehr Zeit bei der Arbeit. Fionas Verhältnis zu ihrem Sohn Stefan scheint eher analytisch als gefühlsbetont. Fiona hat viel Zeit über ihre Situation nachzudenken, über ihre Herkunft und Vergangenheit ebenso wie über ihre Wünsche für die Zukunft. Dabei stellen sich auch Fragen nach der (selbstgewählten) Begrenztheit ihres Lebens, nach Verantwortung und danach, wie sich Glück definieren lässt und vor allem, wie es sich festhalten lässt.

Möglicherweise ist Fiona ein typisches Beispiel der Nachkriegsgeneration: Verheiratet und finanziell von ihrem Mann abhängig, auf der anderen Seite aber bereit, sich aus dieser Situation zu lösen oder wie es so schön heisst: sich selber zu finden. Dieses Sich-selber-Finden kann aber immer nur im Vergleich mit anderen stattfinden. In Fionas Fall beispielsweise in der Begegnung mit Johanna oder dem Ehepaar Richter. Fiona sucht Herausforderungen und findet doch nur neuen Mief, andere Einschränkungen und missliche Lagen. Die Männer in Frauke Ohloffs Roman kommen oft etwas übergriffig daher. Sie scheinen allesamt zu wissen was Frau braucht und denkt. 

Titel: Fiona, Roman, 225 Seiten, Paperback

Autor: Frauke Ohloff

Verlag:  Edition Hartmann, Bern, 2021

ISBN 978-3-905110-42-5, Fr. 35.­–

Kurz zusammengefasst: Fiona, eine Frau zerrissen zwischen den inneren und äusseren Ansprüchen, sucht einen Weg aus der Lethargie. Männerbekanntschaften, ein neuer Arbeitsplatz, die Herausforderungen als Mutter und Ehefrau, das fremde Umfeld: überall stösst Fiona an Grenzen. An innere und äussere. 

Für wen: Glückssucher/innen.