Dafer lebt als irakischer Flüchtling in der Ostschweiz. Er hat mittlerweile eine Arbeit im Gastgewerbe gefunden. Bis es soweit war, hat er die üblichen Stationen durchlaufen: Asylantrag, Aufenthalt in bisweilen zweifelhaften Unterkünften zusammen mit anderen Unglücklichen, die in die Schweiz gelandet sind. Freundschaften sind schwer zu knüpfen: keiner der Asylanten weiss, ob der Zimmernachbar morgen noch hier sein wird. Wird er ausgewiesen, in ein anderes Dorf geschickt, wird er tot sein?
Usama Al Shahmani beschreibt in seinem Roman Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt die Gründe, weshalb ein Iraker zu Zeiten Saddams das Weite sucht und seine Ankunft in der Schweiz. Seiner Hauptfigur Dafer gelingt es nach und nach Fuss zu fassen. Doch es ist dies ein Stehen auf wackeligen Beinen. Zu gross sind die Verluste, die er als Flüchtling gemacht hat und immer noch macht. Und die «Gastgeber» glänzen eher durch Abweisung und Gleichgültigkeit, denn durch Verständnis.
Wunderbar die Methapern, die Al Shahmani für Dafers Zustand verwendet:
Ihm ist als klopfe er an die Türe seines Exils. Weder wird die Tür geöffnet, noch hört er auf zu klopfen.
Wem dabei die biblische Herbergsgeschichte in den Sinn kommt, liegt sicher nicht falsch.
Zwar hat Dafer es geschafft bis ins Exil, doch vergleicht er sich mit einem Schachspieler, der gegen sich selber spielt: Verlierer und Gewinner zugleich.
Verloren hat er sein Ursprungsland. Kehrt er dahin zurück, findet er sich nicht mehr zurecht. Schlimmer noch: er ist derjenige, der das Land und die Familie in den Augen seiner Landsleute im Stich gelassen hat. In seine alte Heimat kann er nur noch als Gast. Selbst sein altes Zimmer ist mittlerweile nur noch eine Abstellkammer
Eine besondere Rolle spielt Dafers Grossmutter. Sie ist eine grosse Geschichtenerzählerin und schafft die Grundlage dessen, was Dafer in seinem Exil über Wasser hält: die Freude an der Sprache oder vielmehr an Sprachen und Geschichten. In ihnen findet Dafer eine, seine Heimat.
Überrascht hat mich als Schweizerin ein Detail: Dafer tut es den Schweizern gleich und wandert in der Freizeit in den Wäldern umher. Ich versuche mich zu erinnern, ob ich schon je einen unserer Asylanten in den Wäldern angetroffen habe. Ja, ich habe schon eine Arbeitskolonne von Flüchtlingen beim durch die Gemeinde organisierten Arbeitseinsatz angetroffen. Aber als Freizeitvergnügen: Fehlanzeige! Und hier beschreibt nun ein Autor einen einsamen Exilanten, der das Spazierengehen und Wandern für sich entdeckt hat und Gewinn daraus zieht. Ich wünschte mir, das käme häufiger vor: Als Mittel, Geist und Seele zu beruhigen oder auch nur, um die Gegend kennen- und lieben zu lernen.
Al Shahmani hat auch dafür eine schöne Methaper gefunden:
Im Wald spürt Dafer einen unsichtbaren Faden, der ihn zusammenhält.
Titel: Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt, Roman, 172 Seiten, gebunden
Autor: Usama Al Shahmani
Verlag: Limmat Verlag, 2022
ISBN 978-3-03926-042-3 , SFr. 30.–, 26.– €
Kurz zusammengefasst: Im Irak unter Saddam ist keiner seines Lebens sicher. Dafer hat ein Theaterstück geschrieben, das die Schergen auf den Plan ruft. Er flüchtet und landet in der Schweiz. Doch der Ort, zu dem er geflogen ist, macht es ihm nicht leicht. Poetisch, und trotz der traurigen Geschichte positiv.
Für wen: Besonders lehrreich für Leute, die meinen, schon alles über Flüchtlinge zu wissen.