Se non è vero, è ben trovato

Es gibt sie also noch: Bücher, die einem so richtig mit sich nehmen, so dass man seine Augen gar nicht mehr von den Seiten losreissen möchte. Der Roman Sein Sohn von Charles Lewinsky hatte auf mich jedenfalls diese Wirkung: eine Geschichte voller spannender, witziger, intelligenter Figuren; eine Handlung, basierend auf wenigen geschichtlich verbürgten Tatsachen, ausgeschmückt so bunt und abwechslungsreich, dass es eine wahre Freude ist, eine Fabulierkunst, auf die man neidisch werden könnte, und dazu jede Menge Lebensgefühl des 19. Jahrhunderts. Romantische Schäferszenen oder Szenen hinter Biedermeier-Vorhängen sind nicht zu erwarten. Dafür eignet sich weder Lewinskys nüchterner Ton, noch würden die Figuren und die Szenerien, in denen sie sich bewegen, dazu passen. Man sollte wohl eher in Richtung Realismus denken – und das nicht zu knapp.

Worum geht es?

Über seine Herkunft weiss der elternlose Louis Chabos, grob. 1794, nichts. Im Waisenhaus, in welchem er aufwächst, ist er einer der Schwächsten. Sein französischer Name ist auch nicht gerade hilfreich. Seine unkomfortable Lage ändert sich etwas, als er mit zwölf «kein Kind mehr» ist und von einem Marchese als Diener ausgebildet wird. Denn hier lernt er, wie man sich in einer grausamen Welt behauptet. Louis Lehrzeit nimmt ein abruptes Ende, er stromert durch die Gegend, kommt ins Gefängnis, weil er einen Apfel gestohlen hat und zieht schliesslich mit Napoleons Armee gegen Russland. Den Feldzug überlebt er wundersamerweise, allerdings mit einer halben Hand weniger. Louis macht sich nun auf die Suche nach seinen Eltern und kommt so nach Reichenau und in die Bündner Herrschaft. Seine Mutter findet er in einer Einrichtung für Geisteskranke. Der einzige Mensch, der ihm jetzt noch sagen könnte, wer sein Vater ist, schweigt. Nach Jahren hat Louis einen Platz in Zizers gefunden, er hat eine Familie, ein gutes Auskommen. Doch die Suche nach seinem Vater lässt ihm keine Ruhe. In den Schriften seines Gönners findet er die Antwort, die er sucht: Sein Vater ist der König der Franzosen, Louis-Phillippe. Louis macht sich umgehend auf den Weg nach Paris. 

Louis, die Hauptfigur, bewegt sich als Habenichts unter den einfacheren Menschen. Sie wissen: Das Leben und die Mitmenschen sind ungnädig. Fast jeder hat damit zu tun, sich über Wasser zu halten. Die Lebensweisheiten sind dementsprechend, es ist wenig Platz für Mitgefühl. So sagt beispielsweise der Sergent, bei dem Louis seine Armeeausbildung erhält:

«Beim Zirkus geht man über das hohe Seil und kommt auf der anderen Seite an. Oder man verliert das Gleichgewicht und ist tot. Entweder oder. Etwas Drittes gibt es nicht. Applaus oder Totenmesse. Der Zuschauern ist es egal. Sensation ist Sensation. Dafür sind sie gekommen. Auf dem Schlachtfeld bekommt ihr keinen Applaus. Da ist es besser, ihr sterbt hier vor Erschöpfung.»

Doch nicht nur vom Sergent lernt Louis, dass die Welt ein Zirkus ist. Sein erster Lehrmeister, der Marchese, hat ihm folgendes beigebracht:

«Wenn du einen König beeindrucken willst, verneig dich weniger tief als die anderen. Merk dir das. Von denen mit der Nase am Boden kennt er genug.»

Louis ist gelehrig. Die Merksätze seiner Lehrmeister bleiben ihm im Kopf. Doch keiner von ihnen hat ihm beigebracht, was man mit einer Leerstelle, hinterlassen von Eltern, die nichts von ihm wissen wollten und die ihn in einem Waisenhaus abgegeben haben, anfangen soll. Und so ist Louis getrieben von der Frage, was das wohl für Eltern sein müssen. Für die Antwort auf sein Suchen verlässt er sogar seinen sicheren Familienhafen in Zizers. Anstelle eines königlichen Vaters, der ihn mit offenen Armen empfängt, wartet in Paris weit Unangenehmeres auf den Suchenden. 

Autor: Charles Lewinsky

Titel: Sein Sohn, Roman

Verlag: Diogenes, 2022, gebunden, 368 Seiten

ISBN 978-3-257-07210-5, 25.­– Euro/28.20 Franken

Kurz zusammengefasst: Temporeich, farbenfroh, klug und mit beiden Füssen lebensnah im 19. Jahrhundert: Dieser Roman lässt kaum einen Wunsch offen. Das Waisenkind Louis kommt auf derabenteuerlichen Suche nach seinem royalen Vater über Mailand, Russland, die Schweiz bis nach Paris. Manche Figuren im Roman gab es tatsächlich, die Romanhandlung: Se non è vero, è ben trovato. 

Für wen: Wunderbare Unterhaltung mit Tiefgang, ist wüsste keinen, dem das nicht gefallen würde.

Veröffentlicht von

Jolanda Fäh

Journalistin, Autorin, Lektorin, Herausgeberin

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