Die Barbaren, das sind immer die anderen

China: ein Riesenland, in dem sich einiges tut, das die Welt wirtschaftlich in Atem hält. Und immer ist da auch etwas Abweisendes, Undurchschaubares, Anderes. China verstehen fällt Europäern immer noch schwer, jahrhundertelange Handelsbeziehungen hin oder her. Da bietet Stephan Thomes Buch unter dem Titel Gott der Barbaren einiges an Erhellendem, einmal abgesehen von Spannung und einem Eintauchen in Geschichte, die wir so nie gehört haben.

Thomes Roman spielt um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Chinas Kaiser und die Beamten im Reich wollen alles so bewahren, wie es immer war. Doch eine Rebellenarmee, angeführt von Hong Xiuquan, der sich als Christ und als zweiter Sohn Gottes betrachtet, ist drauf und dran, das Land zu erobern (der sogenannte Taiping-Aufstand). Von der Küste her drängen Engländer und Franzosen ins Land und sind bereit, dem Kaiserreich die Segnungen des Handels  und Fortschritts aufzuzeigen, notfalls mit Kanonen (Zweiter Opiumkrieg). Ein fürchterliches Gemetzel nimmt seinen Lauf. Gemäss Thome – in einem Interview (auf youtube zu finden) – fielen den Auseinandersetzungen 20 bis 30 Millionen Menschen zum Opfer.

Stephan Thome, der deutsche Autor dieses bedeutsamen Romans, bringt uns einen wichtigen Teil von Chinas Geschichte und die Perspektiven der Beteiligten näher. Als Leser begleiten wir einen abenteuerlustigen Missionar, einen steifen britischen Diplomaten, den unbeugsamen Oberbefehlshaber der Gunan-Armee, kotaubefliessene Beamte und andere auf ihrem Weg durch die Jahre des Chaos. So abstrus ihre Gedankengänge und Rechtfertigungen uns oft erscheinen mögen, so logisch wirken sie aus damaliger Sicht und Herkunft des einzelnen. 

Der ganze interkulturelle und religiöse Konflikt wird durch umfangreiche historische Studien Thomes gestützt. Thome selber hat in Nanking studiert, jener Stadt also, die ehedem die Hauptstadt der Taiping-Rebellen war. 

Dem Autor gelingt es, sich in seine Figuren hineinzuversetzen. Ihre Handlungsweisen werden vor dem Hintergrund ihrer kulturellen Prägung verständlich; ihre inneren und äusseren Konflikte sind dermassen dargestellt, dass wir zu begreifen beginnen. So stellen Chinas Beamte fest: Der Westen lässt sich nur mit seinen eigenen Waffen schlagen, dem Handel. Und die christlichen Missionare müssen sich die Frage stellen: Wäre das Gemetzel zu vermeiden gewesen, hätten sie nie versucht die Chinesen zu christianisieren? 

Das Trauma, das China Mitte des 19. Jahrhunderts erlebt hat, hat das Land tiefgreifend verändert und wirkt nach. Es liefert Gründe, weshalb das heutige China Falun Gong als Sekte betrachtet und die Anhänger als Gefahr für die innere Sicherheit betrachtet. Es liefert Gründe, weshalb in Hongkong die Polizei auffährt, wenn die Menschen gegen ein Auslieferungsgesetz streiken und hat Gründe geliefert, als die Panzer auf den Tiananmen-Platz auffuhren, um Studenten zusammenzuschiessen, die etwas Demokratie verlangten. Auch wenn die USA und China sich gegenseitig handelspolitisch die Fäuste zeigen, geht es immer noch um Geld und darum, wer wem seine Sicht der Dinge aufzwingt. Am gegenseitigen Barbarentum hat sich in 200 Jahren nichts geändert.

Titel: Gott der Barbaren, Roman, 719 Seiten, gebunden

Autor: Stephan Thome

Verlag: Suhrkamp Verlag 2018, http://www.suhrkamp.de

ISBN 978-3-518-42825-2, Fr. 35.30/Euro 25.-

Kurzbeschrieb/-bewertung: Ein deutscher Missionar, Philipp Johann Neukamp, den mehr die Abenteuerlust als der Glaube antreibt, trifft in China ein und schliesst sich den Taiping-Rebellen an. Er verliert dabei mehr als seine Hand. Als Leser irren wir in diesem chinesischen Wahnsinn herum auf einer Reise durch eine Vergangenheit, die uns oft genug wie Gegenwart erscheint: nicht zu beherrschen, unübersichtlich, führungslos, gewalttätig.

Für wen: Für alle. Unbedingt lesen!

Veröffentlicht von

Jolanda Fäh

Journalistin, Autorin, Lektorin, Herausgeberin

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