Die Jagd nach dem Blau, welch schöner Titel für ein Buch. Romain Gary hat damit einen Roman geschaffen, in welchem es um Träume geht und um das Festhalten daran, selbst wenn die Zeiten nicht danach sind. Das Buch spielt in Frankreich, genauer in der Normandie, der Dreissiger- und Vierzigerjahre; eine Gegend, die den Krieg erlitten hat, wie kaum eine andere. Auch wenn der Zweite Weltkrieg die Gegend im wahrsten Sinne durchgeschüttelt hat, so bleibt er in Garys Roman zwar gegenwärtig, aber dennoch im Hintergrund. Denn in derJagd nach dem Blau geht es um die Menschen, die alles versuchen, in den Wirren einen Weg für sich zu finden. Und sei es mit einem Papierdrachen davonzufliegen.
„Man muss sie gut festhalten, denn sie ziehen an dir, und manchmal reissen sie sich los, sie steigen hoch in den Himmel, sie machen sich auf, dem Blau nachzujagen, dann siehst du sie nie wieder, ausser wenn andere Leute sie zerschellt hierher zurückbringen.“
Mit diesen Worten erfährt der kleine Ludo von seinem Onkel Ambroise etwas über die Kunst des Drachenfliegens – und kann ganz nebenbei an dessen aussergewöhnlicher Lebensklugheit teilhaben. Der Briefträger Ambroise gilt, seit er aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt ist, in Cléry als leicht verrückt. Er hat sich ganz dem Drachenbau verschrieben und bringt es damit über die Grenzen der Normandie hinaus zu einiger Berühmtheit. Der Waise Ludo wächst bei ihm auf. Während Ludo und sein Onkel die wundersamsten Drachen in die Lüfte steigen lassen und Ludo sich heftig in die Polin Lila verliebt, bereiten sich andere auf den Zweiten Weltkrieg vor. Und plötzlich steckt auch die Normandie mitten drin. Ludo und sein Onkel kommen nicht umhin, Stellung zu beziehen. Während der eine sieben gelbe Sterne in den Himmel steigen lässt, tut der andere alles, damit der Irrsinn schnell ein Ende nimmt.
Romain Gary ist der Spezialist skurriler Szenen und verschrobener Charaktere. In Die Jagd nach dem Blau scheinen sie sich in der Umgebung von Cléry versammelt zu haben: Da sind nicht nur der Briefträger Ambroise und sein Freund, der Spitzenkoch des Clos Joli, der seine ganz eigene Kriegs-Überlebens-Strategie vertritt. Seiner Meinung nach gilt es, die Kochkunst über die Kriegszeit hinüberzuretten, denn was wäre Frankreich ohne seine Küche. Ludo wiederum leidet an Gedächtnisüberschuss. In Lilas Familie hat sich die Vernunft längst verabschiedet und taucht nur dann auf, wenn Lilas Vater, der aus einer angesehenen polnischen Familie kommt, seine Frau ausschickt, Geld zu „besorgen“. Lilas Exaltiertheit kommt nicht von ungefähr. Doch sie versteht es, aus ihren Verehrern das Beste hervorzulocken. Auch unter die deutschen Besatzer haben sich einige höchst eigenartige Typen geschlichen, unter anderem eine ungarische Fürstin, die noch vor kurzen in Paris als Hure tätig war.
Mit diesen und anderen extravaganten Charakteren kommt es natürlich unweigerlich zu bizarren Situationen. Da sitzen beispielsweise im Clos Joli hochrangige deutsche Offiziere beim gediegenen Dinner, und an den Nebentischen werden ungeniert britische Fallschirmpiloten bedient, die von Ludo und seinen Résistance-Freunden gut gestärkt auf die Heimreise geschickt werden wollen.
Nicht umsonst sind zahlreiche Bücher Romain Garys verfilmt worden. Gerade eben ist die Verfilmung von Frühes Versprechenin den Kinos. In dieser Geschichte setzt sich Gary mit der eigenen Sohn-Mutter-Beziehung auseinander. Eine Mutter, die von ihrem Sohn nichts weniger verlangt, als berühmt zu werden. Das Thema, mit seinem Leben etwas Grosses zu erreichen, kommt gleichfalls in Die Jagd nach dem Blauvor. Es könnte sich also lohnen, sich nach dem Jagd-nach-dem-Blau-Buch auch noch den neuen Film zu gönnen.
Titel: Die Jagd nach dem Blau, Roman, 376 Seiten, gebunden
Autor: Romain Gary
Aus dem Französischen von Jeanne Pachnicke, Originaltitel: Les Cerf-volants
Verlag: Rotpunktverlag, http://www.editionblau.ch
ISBN 978-3-85869-828-5, Fr. 28.-/Euro 24.-
Kurzbeschrieb/-bewertung: Lebensfreude, innerer Widerstand, Humor, Pragmatismus, grosse Liebe, Eigensinnigkeit bis hin zur Selbstaufgabe: All dies findet sich in dieser Geschichte wieder und dies in einem Roman, der in Kriegszeiten spielt. Doch Gary erlaubt es der Tragik nie, sich über die Träume der Menschen herzumachen und sie zu verschlingen. Unbedingt lesenswert.
Für wen: alle, die Hintersinnigkeit zu schätzen wissen.
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Danke für den schönen Tipp. Dieses Drachen – Thema hat ja viele Schriftsteller und Filmemacher angeregt.
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