„Ich bin einsam. Ich dachte du vielleicht auch.“

Heute geht es um das letzte Buch von Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht. Eine Story, die einen durchzurütteln vermag. Ein Buch auch, das uns daran erinnert,  wie sorgsam wir miteinander und mit unserer Zeit umgehen sollten, aber auch, wie wenig geschaffen für die Einsamkeit wir Menschen sind. 

Die Story: Louis und Addie leben als Nachbarn im Herzen der USA in einer Kleinstadt. Beide sind seit ein paar Jahren verwitwet und leben jeder für sich in ihren stillgewordenen Häusern. Addie klingelt eines Abends bei Louis und bittet ihn, gelegentlich die Nacht in ihrem Bett zu verbringen. Louis lässt sich darauf ein. Aus dem ungewöhnlichen Arrangement wächst nach und nach eine tiefe Freundschaft, die misstrauisch beäugt und boshaft kommentiert wird. Doch Addie und Louis geniessen jeden Moment ihres Zusammenseins. sie geben sich gegenseitig den Schwung, den sie seit langem vermisst haben. Addies Sohn fühlt sich bemüssigt, seiner Mutter das Recht auf Selbstbestimmung absprechen zu müssen. Addie und Louis stehen schliesslich vor der Frage, was sie noch verkraften können zu verlieren.

Die Situation von Addie und Louis ist beispielhaft. Wie viele ältere Menschen leben allein in ihren Wohnungen oder Häusern, haben kaum mehr Kontakt? Ihre Kinder sind weggezogen, die Zahl der Freunde bereits ausgedünnt, die Beweglichkeit leicht eingeschränkt. Und die Neugier? Auf das, was das Leben noch zu bieten hätte, auf neue Menschen, auf das, was einst Freude bereitete: ist irgendwo verloren gegangen zwischen Arztbesuch, Einkauf, Kirchgang, Rentnertreff und den allgemeinen Vorstellungen, wie man mit siebzig zu sein hat. 

Kent Haruf siedelt seine beiden Hauptfiguren von Unsere Seelen bei Nachtin Holt, einer erfundenen Kleinstadt in Colorado an. Die Umgebung ist ländlich, man kennt sich ein wenig, die Moralvorstellungen sind eher prüde. Zwei alte Menschen, die plötzlich ihre Nächte miteinander verbringen, passen da nicht ins Bild. 

Ich habe mich gefragt, ob Harufs Geschichte hierzulande angesiedelt auch funktionieren würde. In städtischen Gemeinden dürfte eine Beziehung wie die von Addie und Louis keinen interessieren, auf dem Lande gäbe es sicherlich eine zeitlang Kommentare. Dass jedoch leibliche Kinder überzogen reagieren, wenn ihre siebzigjährige Mutter sich neu verliebt: Sowas gibt es auch hier. Also ja: Es braucht für eine Geschichte wie die vorliegende kein amerikanisch-bigottes Kleinstadtgefüge. Hintertupfigen wäre als Schauplatz ebenso geeignet.

Unsere Seelen bei Nachtist mit Robert Redford und Jane Fonda 2017 verfilmt worden. Leider habe ich diesen Film noch nicht gesehen. Muss ich unbedingt nachholen!

Titel: Unsere Seelen bei Nacht, Roman, 197 Seiten, Taschenbuch

Autor: Kent Haruf. Deutsche Erstübersetzung. Aus dem Amerikanischen von pociao

Verlag: Diogenes Verlag, 2017, http://www.diogenes.ch

ISBN 978-3-257-24465-6, Fr. 22.­–/Euro 16.99

Kurzbeschrieb/-bewertung: Zurückhaltend-gefühlvolle Geschichte zweier Menschen, die sich entschliessen, ihren dritten Lebensabschnitt nicht einfach dahinschwinden zu lassen. Was werden die Nachbarn dazu sagen, wenn zwei alte Leute ihre Nächte plötzlich gemeinsam verbringen? Addie und Louis wagen es. Was haben sie schon zu verlieren? Kent Harufs Erzählweise ist einerseits still-verhalten, anderseits von einer Klar- und Offenheit, die perfekt zu diesen zwei älteren Menschen passt, die zu viel erlebt haben, um ihr Restleben mit Kinkerlitzchen gestalten zu wollen.

Für wen: Trotz des bewegenden Ausgangs ist dieses Buch ein Mutmacher: Älterwerden muss nicht das vorweggenommene Ende sein. 

Veröffentlicht von

Jolanda Fäh

Journalistin, Autorin, Lektorin, Herausgeberin

3 Gedanken zu „„Ich bin einsam. Ich dachte du vielleicht auch.““

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